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REPORT: Soldaten gehen - was wird kommen?
Neue Sphären
Rosige Aussichten zeigt die Schwäbische Alb, nicht nur von seinen
Türmen. Die Schließung des Schießplatzes eröffnet
neue Perspektiven. Für wen, erfahren Sie in SPHÄRE.
Unsichtbar wie das hauchdünne Gestrick eines lichten Vorhangs zog
sich ein imaginärer
Wall quer durch das Schwäbische Alb-Land. Auf der einen Seite Münsingen,
auf der
anderen Seite Römersteins Zainingen.
Kein Zaun, kein Stacheldraht markierte 110 Jahre lang die Grenze zum
ehemaligen Truppenübungsplatz. Und dennoch riegelte das Nichts, aufgespannt
zwischen den schwarzgelben Pfosten der Warnschilder, ein gigantisches
sechs Quadratkilometer großes Gebiet hermetisch ab: Sperrgebiet.
Nicht
unüberwindbar, aber trotzdem nie erreichbar für den zivilen
Menschen auf der Schwäbischen Alb. Rehe, Wildsäue, Vögel,
die Samen der Pflanzen und die Wolken bewegten sich in dieser Sphäre
grenzenlos frei und konnten sich entfalten. Traumhaft soll die Landschaft
sein, hier hatte die Natur einen fast ungestört freien Lauf, so sagt
man. Zehntausende Schafe, so hört man, weiden dort. Von intensiver
Agrarwirtschaft und der damit zwangsläufig verbundenen Monotonie
des Landschaftsbilds keine Spur. Eine kleines Königreich? Bis heute
können wir das nicht wissen.
Erst wenn der Schnee geht, dürfen die Menschen nach über 100
Jahren wieder rein. Vorerst nur auf den markierten Wegen, es lauern Blindgänger
im munitionverseuchten Gehölz. Die Aufbruchstimmung schwebt als Dauerthema
über den Stammtischen, beim Einkaufen diskutiert man den großen
Plan: Das Biosphärengebiet von Westerheim im Osten über das
Lenninger Tal im Norden und Pfullingen im Westen bis Zwiefalten am Ende
des Lautertals im Süden.
Eine ganze Region rückt zusammen. Als Antrieb pulsiert die ungestörte
Natur im ehemaligen Truppenübungsplatz dem Herzen der künftigen
Biosphäre. Das Herz der Bevölkerung schlägt schon lange
für die einzigartige Natur auf ihrer Alb. Sie sind stolz. Aber sie
wissen nur wenig. Informationen tropfen spärlich maximal bis
zu den Meinungsbildnern im Gemeinderat.
Dabei keimte schon 1998 der Gedanke von der Biosphäre Schwäbische
Alb als zartes Pflänzchen bei Bürgermeister Mike Münzings
Zukunftstreffen. Doch erst seit Ministerpräsident Oettinger letztes
Jahr diese Vision zur Chefsache erhob, rollt und schnauft der Biosphären-Zug
jetzt weithin hörbar mit Volldampf an. Zuerst kurbelten nur die Bürgermeister
der umliegenden Gemeinden Münsingen, Bad Urach und Römerstein
mit am Steuerruder im Führerhaus. Bis heute hängen sich immer
neue Ortschaften an diesen Erfolgszug an.
Wie groß wird die Biosphäre? Wer wird Eigentümer des alten
Truppenübungsplatzes mitten in der Biosphäre? Wer soll die laufenden
Kosten einer Verwaltung der Biosphäre finanzieren? Auf alle diese
Fragen formulierten der Bund und das Land bis Anfang 2006 fassbare Antworten.
So hoffnungsreich, dass die Redaktion Sphäre mit der Konzeption einer
Zeitschrift für den Lebensraum Schwäbische Alb Mitte Dezember
begann.
So
plötzlich wie die Vision vom Biosphärengebiet um sich greift,
so blitzartig nahm seinerzeit die Gründung des Truppenübungsplatzes
seinen Anfang. Kriegsminister Freiherr Schott von Schottenstein besichtigte
im April 1894 das Münsinger Hardt. Schon im Juni 1895 verschwanden
die vier Bauernhöfe Ludwigsburg, Bäumlersburg, Achenbuch und
Heroldstatt von der Landkarte. 4,9 Millionen Mark war dem Württembergischen
König Wilhelm II die Gesamtfläche von 3,6 Quadratkilometern
wert. Zum Vergleich: Ungleich billiger für rund 7 Millionen Dollar
verkaufte Russland im Jahre 1867 das 1,5 Millionen Quadratkilometer große
Alaska an die USA. Fieberhaft wurde um die Jahrhundertwende geschreinert,
gemauert. Die Region blühte, denn ihre Schaffenskraft war plötzlich
gefragt.
Doch so schnell die Soldaten vor 100 Jahren auf die Alb schwärmten,
so unerwartet zogen sie zur Jahrtausendwende wieder ab. Noch in den Jahren
1997 bis 2001 investierte der Bund rund 18 Millionen in diesen Standort.
Die historischen Gebäude des Alten Lagers haben die Feldherren
restauriert, ebenso wie in neue Gebäude und Betriebshallen investiert.
Und dann? 2001 verkündete das Verteidigungsministerium das Aus.
Dieser unplanwirtschaftliche Zickzack-Kurs löste entsprechende Empörung
aus heute ebenso wie in der Vergangenheit. Den schauerlichsten
Klageruf stießen 1941 die Bewohner der Gemeinde Gruorn in die klare,
kühle Luft der Schwäbischen Alb hinaus. Der Truppenübungsplatz
sollte im Bereich dieser Gemeinde vergrößert werden. Ihr geliebtes
Dorf stand als Bauernopfer für größere politische und
militärische Winkelzüge zur Disposition. Schach matt
bereits zwei Jahre später mussten Bauern und Vieh gehen. 665 Einwohner
verloren Haus und Hof. Kein Geld der Welt für die Umsiedlung ersetzt
Heimat und tiefe Wurzeln.
Soldaten
verschanzten und kämpften sich durch die gemütlichen Stuben
der 235 Häuser. Geschosse setzten die Dachstühle in Brand. Selbst
die Stephanus-Kirche hatte der Munitionshagel nicht verschont. Das Gotteshaus
und das alte Schulgebäude durfte der Gruorner Verein wieder aufbauen.
Seit 1950 hebt sich der lichte und gleichzeitig unüberwindlich dichte
Vorhang um das Hardt jährlich für nur einen Tag. Erinnerungen
erwachen beim traditionellen Treffen am Pfingstsonntag auf dem Gruorner
Dorfplatz.
Um das Gelände rankten sich Mythen und Phantasien wie eine Rosenhecke
um Grimms Dornröschen. Doch hier handelte es sich nicht um ein Märchen,
sondern für die Bewohner am Rande des Truppenübungsplatzes um
ernste Realität. Denn: Wie die spitzen Dornen in Grimms Märchen
hielten die Verbote und Schilder die Bewohner über 100 lange Jahre
auf Distanz.
Die Zeit blieb stehen für das Münsinger Hardt. Zainingens alte
Straße quer über den Platz Richtung Süden verschwand nur
wenige hundert Meter nach dessen Ortsausgangsschild im Nichts. Wie aus
einer fernen Welt drang eine grollende Kulisse in die umliegenden Dörfer.
Kanonengebrüll, Leuchtraketen, Flugzeugkreischen. Wer in der heißen
Zeit des Kalten Krieges der 60er- Jahre auf diesen Teil der Alb zog, hatte
an dieser Bedrohung zu knabbern.
Bisweilen allerdings mussten sich die Anrainer des Truppenübungsplatzes
auch fürchten
und leiden. Denn vor dem lichten Vorhang zwischen den schwarzgelben Pfosten
der
Warnschilder machten die Menschen zwar halt, doch nicht immer die Geschosse.
So
krachte in den 50er-Jahren eine Granate in Zainingens Schulhaus hinein,
erinnert sich
ein Zeitzeuge. Auch berichtet er von Geschossdetonationen am Ortsrand
dieser Albgemeinde jenseits der Bundesstraße B28. Den Seeburgern
steckt heute noch der Schreck in den Gliedern, als 1978 ein ungestümer
Kampfflieger über das Ziel hinaus schoss, hinunter ins Fischburgtal
ins Dachgebälk des Rathauses.
Wenn
die weiße Pracht dieses Winters geht, ist dann plötzlich alles
Schnee von gestern? Ja, könnte man meinen. Der lichte Vorhang wird
vom Winde verweht. Ein unvergleichliches Landschaftsbild ohne Zirkel gezogene
Linien und Geraden liegt uns zu Füßen endlich können
die Anwohner marschieren und ihre artenreiche Pflanzen- und Tierwelt genießen.
Nicht ganz, sie dürfen nicht wie sie wollen. Denn: Nur die Farbe
des lichten Vorhangs hat sich geändert. Von Militärgrün
in ziviles Schwarz-Rot-Gold. Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
(BImA) heißt der neue Hausherr und Ansprechpartner für alle
Nutzungsfragen. So wie sich nur der Name des Eigentümers änderte,
änderten sich auch nur die Schrift und die Symbole auf den Tafeln.
Geblieben ist der schwarzgelbe vom Rost angefressene Lack an den Pfosten
und das absolute Betretungsverbot. Abertausende Geschosse und Blindgänger
drohen als unberechenbare Gefahren.
Unberechenbar, wie die vermeintlich sichere Autofahrt, die jährlich
die Größe einer
Kleinstadt als Unfallopfer beklagt? Noch nie sei etwas auf dem Platz passiert.
Während
der Mobilmachung des zweiten Weltkrieges marschierten dort in kürzester
Zeit mehrere
zehntausend Soldaten auf. Sind Schäfer und Waldarbeiter lebensmüde?
Noch nie kursierten Gerüchte von verunglückten Schafen. Diskussion
und Sorge machten sich breit, dass die Menschen schon wieder außen
vor bleiben.
Diese Befürchtung ist verständlich. Kommunalpolitiker nahmen
daher die Ängste sehr
ernst. Im Jahre 2004 setzte sich die Junge Union öffentlichkeitswirksam
für die Öffnung der alten Verbindungsstraße von Zainingen
nach Münsingen ein. In der dadurch entfachten Diskussion kristallisierte
sich schnell ein schier unlösbarer Zielkonflikt heraus. Einerseits
führt die Gemeindeverbindungsstraße zusammen, was historisch
gesehen zusammen gehört, andererseits würde die neue Verkehrsader
zerschneiden, was nicht nur die letzten 100 Jahre schon fest verwachsen
war: Nämlich eine beispiellos große und einzigartige Naturkulisse.
Ganz
gleich, ob pro oder kontra der beherzte Austausch der Argumente
verdeutlicht, wie sehr den Menschen der ehemalige Truppenübungsplatz,
die Schwäbische Alb und jetzt auch die geplante Biosphäre ans
Herz gewachsen sind und weiter ans Herz wachsen.
Die Alb rückt zusammen, der Schulterschluss der Gemeinden und Naturschutzverbände
sind ein Signal, dass kreative Schaffenskraft diese Idee vorantreibt.
Handeln statt reden die Wirtschaft dieser Region erkennt ihre Chance.
Die Alb ist stark. Schon immer mussten die Bewohner mehr heizen als im
wärmeren
Tal, mussten mehr pflügen für rentablen Ertrag, mussten mehr
denken und organisieren, um hier zu bestehen. Dise Erfahrung macht lebensklug
und schafft ein Bewusstsein für Zusammenhalt. Gerade in der Zeit
von Lebensmittelskandalen birgt die Biosphäre eine Chance, die heimischen
Schätze neu zu entdecken. Ganz gleich ob das Lädle im Ort, das
heimische Holz, der heimische Dinkel oder nur ein schmackhaftes Ei
hier oben hält man zum Glück noch nicht viel vom globalen Einerlei.
(2006)
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