Kulturportrait Saale-Unstrut

Kulturporträt: Naumburg und Naturpark Saale-Unstrut – wenn Wirklichkeit Ost auf Vorurteil West trifft

Stadt, Land, Fluss – dies war kein Gesellschaftsspiel, sondern ein Spiel mit einer Gesellschaft? Nach 30 Jahren Mauerfall bewegt das Experiment Wiedervereinigung immer noch Menschen und Gemüter. Noch immer zerredet der Westen mit dumpfer Überheblichkeit das Leben im Osten. Doch diese Reise nach Sachsen-Anhalt in den „Naturpark Saale-Unstrut-Triasland“ zeichnet ein so ganz anders Bild von einer beneidenswerten Lebensidylle in Stadt, Land, Fluss entlang dreier Täler.

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Weniger ist mehr

Stadt, Land, Fluss – dies war kein Gesellschaftsspiel, sondern ein Spiel mit einer Gesellschaft?Nach 30 Jahren Mauerfall bewegt das Experiment Wiedervereinigung immer noch Menschen und Gemüter. Noch immer zerredet der Westen mit dumpfer Überheblichkeit das Leben im Osten.
Doch diese Reise nach Sachsen-Anhalt in den „Naturpark Saale-Unstrut-Triasland“ zeichnet ein so ganz anders Bild von einer beneidenswerten Lebensidylle in Stadt, Land, Fluss entlang dreier Täler.

Die Behauptung, in unseren Breiten hätten zu prähistorischer Zeit nur Halbwilde im Fellkleid gehaust, ist eine Mär. Längst haben Wissenschaftler auch in Mitteleuropa frühe Hochkulturen nachgewiesen. Die Schwäbische Alb gilt bereits als kultureller Hotspot der keltischen Eisenzeit vor etwa 2800 Jahren. Doch auch weitere tausend Jahre früher verortet man in Sachsen-Anhalt den Nabel der uralten Welt. Genauer: Im „Naturpark Saale-Unstrut-Triasland“, einer Bilderbuchlandschaft im schönen Osten der Republik. Auf dem Mittelberg nahe dem Städtchen Nebra erblickte dort 1999 ein absoluter Weltstar der Archäologie das Licht der Gegenwart: Eine Himmelsscheibe aus Bronze mit Gold beschlagen, zeigt den Stand von Sternen, Mond und Sonne. Dieser nur 32 Zentimeter im Durchmesser große Zufallsfund gilt als weltweit älteste Darstellung unseres Himmelszelts.

Himmelsscheibe von Nebra: Vor etwa 3800 Jahren geschmiedet, könnte sie Insignie des ers­ten Großkönigs in nordischen Breiten gewesen sein. Etwa 300 Jahre später wurde sie mit zwei Schwertern, Beilen und Schmuck vergraben. Das Original allerdings ist nicht in Nebra zu sehen, sondern im Landesmuseum Halle (Saale). (Himmelsscheibe Foto: Bachmann, CC 3.0)

Nein, nicht in Euphrat, Tigris oder Nil wurde nur Geschichte geschrieben, auch in Sachsen-Anhalt. Und zwar vor rund 4000 Jahren von einem namenlosen Sternenbeobachter und Meister des Schmiedehandwerks. Dieses Zeugnis menschlicher Genialität soll laut Versicherung rund 100 Millionen Euro wert sein. Um diesen kuchenblechgroßen Gruß aus der Vergangenheit herum entstand eine imposante Museumswelt, in die jährlich rund 350000 Besucher strömen.

Den Zauber vergangener Zeiten umweht aber nicht nur den Fundort der Himmelsscheibe, sondern die gesamte Region. Dass kulturhistorisch Ostdeutschland in einer anderen, jedoch ganz und gar sympathischen Sphäre lebt, spürt man hier bei jedem Schritt. „Reich macht nicht unbedingt glücklich, modern ist nicht unbedingt ästhetisch.“ So berührt die Ausstrahlung der Altstädte von Naumburg im Herzen des Naturparks oder Weißenfels, beide an der Saale, den Architekturinteressierten auf empfindsamste Weise mit hochkarätig, kompetent restaurierten Gebäuden, akzentuiert durch stilvollen städteplanerischen Sachverstand.

Langsam – allerdings so langsam, dass immer noch hier und da abbruchreife Häuser auf Renovierung warten – haben sich die Menschen an Saale und Unstrut einen Lebensraum geschaffen, der der von Hektik und Abrissbirnen geprägten Stadt- und Landschaftsplanung des reichen Südwestens Beispiel gibt.

Herrschaftlich – Naumburger Marktplatz.

„Weniger ist mehr.“ Davon überzeugen sich tausende Stadttouristen in den Naumburger Gassen, deren ruppiges Kopfsteinpflaster die glatten, mächtigen Mauern des Naumburger Doms kontrastieren. Rund um die enge Altstadt mit ihren winzigen, teils spartanischen, aber gemütlichen Häuschen rattert sogar noch eine Straßenbahn. Die Linie 4 hatte die verkehrspolitische Wende überlebt. Reichliche neun Haltestellen auf nur 2,9 Kilometern als Relikt vergangener Elektrifizierung stimmen nicht nur nostalgisch, sondern neuerdings futuristisch beim jungen, hitzig diskutierten Thema E-Mobilität.

UNESCO-Welterbe – Naumburger Dom geadelt.

„Weniger ist mehr.“ Doch bisweilen kann man vom Guten nie genug bekommen. Deshalb schöpft der „Naturpark-Saale-Unstrut-Triasland“ mit 103737 Hektar aus dem Vollen. Vergleich: Die Schwäbische Alb bespielt sein Biosphärengebiet mit 85300 Hektar. Diese geschützte Weite fördert puren Wandergenuss, entfacht fahrtwindheitere Radlererlebnisse oder motiviert zu gemächlich treibenden Kanu-Touren im Naturpark.

Die Flüsse Saale, Unstrut und Elster zwängen sich selten durch enge Felsdurchbrüche. Deren weitläufige Täler geben dem Naturpark seinen natürlichen Rahmen. Die Auen beiderseits der Flüsse sind mit fettem, fruchtbarem Lößboden gefüllt. Die Talränder erheben sich teils zu scharfkantigen Gesteinsabbrüchen, teils zu sanften Höhen, auf deren Südseiten die Trauben bekannter Weine reifen. Die Winzer hegen rund 50 teils historisch nur hier bekannte Rebsorten. Als roter Faden schwingen und graben sich die noch naturbelassenen Flüsse in wilden Schleifen durchs Tal – einmalig, wie der Blick zu den Sternen oder auf die 4000 Jahre alte Himmelsscheibe in Gold auf Bronze.

Von Marco Heinz


 

Übersichtskarte

 


Arche Nebra: Blick in den Himmel ohne Grenzen

Foto: E. Becher

Am Mittelberg – dem Fundort der Himmelsscheibe – thront in Form einer Sonnenbarke ein besonderes Museum. In der Kuppel des Planetariums gewinnt der Zuschauer atemberaubende Einblicke in die Gedankenwelt der Vorzeit. Unsere Vorfahren verewigten auf der Himmelsscheibe den Rhythmus der Natur. Die goldenen Sterne zeigen das Verhältnis vom Mond zum Sonnenjahr und die Ernteregel nach dem Sternbild der Plejaden. Goldbögen am Rande der Scheibe skizzieren den Jahreslauf der Sonne. Die Scheibe hatte man auf einen 70 Kilometer entfernten Gipfel ausgerichtet – den 1141 Meter hohen „Brocken“. Exakt dort versinkt zur Sommersonnenwende unser Zentralgestirn. So wirkte die Scheibe als perfekter Kalender – vermutlich aber auch als Zeichen der Stärke, denn kosmisches Wissen bedeutete Macht.

Eine Macht kann trennen wie seinerzeit eine Mauer zwischen Deutschland Ost und West. Eine Autorität aber kann auch verbinden, so sie sich denn für Wissenschaft interessiert. Wahre Denker und Lenker bauen Brücken, nicht Zäune – zuerst über Flüsse, dann Gebirge, später zwischen Kontinenten und vor 50 Jahren sogar zum Mond. Die Welt zu Zeiten der Himmelsscheibe rückte schon recht eng zusammen – die Anfänge der Globalisierung im Kleinen: Das Zinn für die Bronzescheibe stammt aus Cornwall, das Gold für die Sterne aus dem Salzburger Land, die astronomischen Kenntnisse für das Sternen-Layout schließlich sickerte aus dem Orient ins kühlere Europa. Heute, da Gesellschaften erneut beginnen, sich zu überhöhen, zu spalten, Grenzen zu ziehen, zeigt dieses Reiseziel zu den Anfängen der Astronomie im schönen Osten, dass schluss­endlich doch alle auf die gleichen Sterne blicken.

 

Schloss mit Symbolcharakter

Am Weißenfelser Schloss Neu-Augustusburg starren immer noch die Einschusswunden von Granaten und Bomben aus der Kriegsvergangenheit in die Gegenwart hinein. Geteiltes Deutschland, das nur sehr langsam vereint. Die zweiteilige Fassade erzählt links, bereits renoviert, von einer vitalen Aufbruchstimmung. Rechts dagegen, immer noch marode, beklagen die Wunden die Toten der Kämpfe hier von 12. bis 15. April 1945.

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Printausgabe: Sphäre 3/2019, Seite 32-35

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