Automobil

Geschichte & Personen: Das Ländle der Dichter und Denker

Was wäre, wenn Freigeister wie Gustav Werner oder Wilhelm Maybach heute lebten? Wäre dann die geplante Modellregion Biosphärengebiet schon heute kompromisslose Realität?

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Zwischen den herbschönen Höhen der Schwäbischen Alb, den grün leuchtenden Wäldern und Fluren des Unterlandes und den in der Sonne lachenden Reben an Neckar, Rems und Zaber war es trotz aller Herrlichkeit der Landschaft nicht immer leicht zu leben. In so manchem Jahrhundert fühlte der Württemberger oft am eigenen Leib, was Hunger und Not bedeuten. Man konnte in vielerlei Hinsicht sagen, Württemberg war Entwicklungsland.

Ein Jahrhundert aber, das neunzehnte, sollte weit mehr verändern, als fast 3000 Jahre Kulturgeschichte zuvor. Das Besondere daran: Der heutige Großraum Biosphärengebiet und dessen Söhne hatten einen gewaltigen Anteil daran. Namen wie Maybach und Werner stellten unser Leben und Denken auf den Kopf. So legte beispielsweise Wilhelm Maybach in Reutlingen gemeinsam mit Persönlichkeiten wie Benz und Daimler den Grundstein für den Siegeszug des Automobils. Gustav Werner zementierte als verantwortungsvoller Großfabrikant das Fundament für die Ideen und Gedanken zur Sozialen Marktwirtschaft.

Ausgehend von den britischen Inseln grollte ein schicksalsschwerer Sturm durch Europa, der nach Stahl und Feuer roch – die Industriealisierung. Deutschland, die junge Kraft im Herzen des Kontinents wurde erst nach der Reichsgründung 1871 so richtig davon erfasst. Von da brandete die Woge der Moderne in unfassbarer Geschwindigkeit übers Land und brach sich auch an der schroffen Alb. Rohstoffe wurden in kaum vorstellbaren Mengen gefördert, Großfabriken entstanden. Jahrhunderte alte Berufsbilder zerfielen – die arbeitsteiligen Industrieprozesse schufen neue. Eisenbahnen ratterten mit immer höherer Geschwindigkeit über die Stahlstränge. Statt beim Bauern oder Kleinhandwerker verdienten jetzt die Menschen zu Zehntausenden in gigantischen Fabriken ihr Geld.

In diesem Sog wirbelte sich Württemberg, nun Bundesstaat im Kaiserreich, vom Entwicklungsland zum Vorreiter der industriellen Revolution. Tüftler und progressive Geister am Strande des Neckars bewiesen Weitsicht, die unsere Welt verändern sollte. Viele Entwicklungen sahen sie voraus, sie zeichneten Pläne und schraubten Prototypen Tag und Nacht. Die schwäbischen Erfinder jener Tage sicherten sich somit die Poleposition, bereit für den Tag X. Für jenen Tag, wo das Kapital seine Renditen-Chancen wittern wird.

Einer der revolutionären Denker, dessen Schornsteine den Reutlingern kräftig einheizte, stammt aus dem schönen Zwiefalten. Am 12. März 1809 erblickte Gustav Werner das Licht der Welt. Dessen soziale Ideen waren seiner Zeit um viele Jahrzehnte voraus. Noch heute existieren seine Strukturen und Netzwerke zwischen industrieller Produktivität und sozialer Verantwortung unter dem Dach der Bruderhaus-Diakonie. Er besaß kleinere Werkstätten und eine Maschinenfabrik in Reutlingen, eine Möbelmanufaktur und ein Papierwerk in Dettingen Erms.

Werner besuchte von 1823-27 das evangelische Seminar in Maulbronn und studierte1827-32 im Tübinger Stift, wie so viele prominente Württemberger, beispielsweise Hegel oder Hölderlin. Auf seinen späteren Predigtreisen traf ihn die Realität der Industrialisierung mit voller Wucht. Die moderne Epoche verheizte die Schwachen zwischen Kohle und Stahl. Werner sammelte Spenden: Christliche Werte sollten im Spannungsfeld des Radikalkapitalismus nicht untergehen. Er gründete in Reutlingen ein „Rettungshaus“ in dem 1848 schon 80 Waisenkinder eine Bleibe fanden.

Der Mensch, so erkannte Werner, definiert sich zum größten Teil über seine Arbeit. So schuf er ein einmaliges Geflecht aus Fabriken, Dienstleistungsbetrieben und Landwirtschaft, um auch den Hilfsbedürftigen, Behinderten, Waisen und Alten Beschäftigung und Sinn zu geben.

Man schrieb das Jahr 1856, als ein später mal weltberühmter Tüftler in Werners „Haus Gotteshilfe“ in Reutlingen Fürsorge fand: Der zehnjährige Wilhelm Maybach hatte seine Eltern verloren – jener Maybach, der 1882 als Konstrukteur des ersten schnelllaufenden Benzinmotors die Voraussetzung schuf zur serienmäßigen Herstellung des Automobils.

Der junge Maybach sollte eigentlich als Konditorlehrling anfangen, doch Werner erkannte dessen technisches Talent und verschaffte ihm eine Ausbildung in der Maschinenfabrik des Bruderhauses. In seiner Freizeit zeichnete Maybach eifrig. Technische Entwürfe und Darstellungen wie beispielsweise des Bruderhauses vor dem Hintergrund der nahen Alb. Er verstand es, mit seltenem handwerklichen Geschick, seine Entwürfe Wirklichkeit werden zu lassen. Er war eine Hochbegabung, das erkannte man in Reutlingen sehr wohl. Dass aber sein Genius auch die Welt verändern könnte, das vermochte nur ein ähnliches Genie zu entdecken.

Es geschah, dass ausgerechnet der in Schorndorf geborene Konstrukteur Gottlieb Daimler (1834-1900) neuer Leiter der Wernerschen Maschinenfabrik werden sollte. Der genaue Ablauf der ers­ten Begegnung ist nicht überliefert, aber irgendwann erkannten sie sich, der 17-jährige Maybach und der 29-jährige Daimler, als gleichgesinnt Begabte. Eine über 30 Jahre kaum unterbrochene berufliche Partnerschaft entstand. Am Aufstieg Württembergs zum führenden Industrieland ist das dynamische Duo Daimler und Maybach nicht alleine beteiligt, aber ein Löwenanteil ist schon deren Verdienst.

Maybach, der sich ein Leben lang an die 13 prägenden Jahre im Reutlinger Bruderhaus erinnerte, folgte Gottlieb Daimler ein Jahr nach dessen Weggang 1869 in die Maschinenfabrik nach Karlsruhe und 1872 in die Gasmotorenfabrik Deutz bei Köln. Hier gingen die beiden ein Bündnis mit dem Entwickler Nikolaus Otto ein. Maybach war immerhin schon Leiter des Konstrukteurbüros. 1882 folgte die Selbständigkeit Gottlieb Daimlers im berühmt gewordenen Cannstatter Gewächshaus, das zu seiner Werkstatt mutierte. Nach einem Jahr der Trennung holte er den kongenialen Maybach wieder in seinen Betrieb. Viele Jahre des Probierens, des Zweifelns, der Angst vor Pleite und Spott waren vergangen, als sich endlich der Erfolg einstellte.

1901, nach dem Tode Daimlers, entwickelte Maybach den ers­ten Mercedes Rennwagen. Auf dem Pariser Autosalon verlieh man ihm den Titel „König der Konstrukteure“. Da wusste wohl keiner mehr, dass seine Weltkarriere einst vor der Türe des Reutlinger Bruderhauses begann – am Fuße der Schwäbischen Alb, direkt vor den Toren der heutigen Biosphäre.

Von Marco Heinz

Zündende Idee: Schwaben verändern die Welt

Was der Erfinderdrang Wilhelm Maybachs und Gottlieb Daimlers der Welt hinterließ, liest sich wie ein technisches Lexikon jener Jahre:

  • 1883 erster schnell laufender Benzinmotor
  • 1885 Reitrad mit Motor
  • 1886 Motorboot und Motorkutsche (quasi Erfindung des Autos, da vierrädrig (Foto), der konkurrierende Entwurf des Mannheimers Karl Benz war dreirädrig)
  • 1887 Draisine und Triebwagen mit Motor
  • 1888 Luftschiffmotor und Straßenbahnen
  • 1896 Motorlastwagen
  • 1897 erstes Motortaxiunternehmen
  • 1898 erste Motor-Omnibuslinie

Erstes Auto: Daimler und Maybach (Foto rechts) erreichten mit ihrem 1,5 PS starken Motor in der Vierrad-Kutsche (Foto links) 16 Kilometer pro Stunde.

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Printausgabe: Sphäre 3/2011, Seite 23-33

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