Die Erde lebt

Albnatur: 30 Jahre Mössinger Erdrutsch

Zum 30. Mal jährte sich am 12. April 2013 der Mössinger Bergrutsch, das dramatische Schauspielpiel der Vergänglichkeit am Albtrauf. Armin Dieter, seinerzeit als Erster vor Ort, hat das packende Spiel der Natur in faszinierenden Bildern festgehalten.

 Foto: 1983

Alles fließt – „Panta rhei“, hat schon der antike Philosoph Heraklit erkannt. Nichts ist unveränderlich – außer der steten Veränderung aller Dinge. Ständigen Wandel erkennen wir oft schmerzhaft an uns selbst und unseren Nächs­ten. In einer festgefügten Naturkulisse würde mancher vielleicht Trost finden, aber auch das ist Illusion: Seen verlanden, Küstenlinien rutschen ins Meer. Die Schwäbische Alb vollzieht ihre Vergänglichkeit meist als stillen Prozess. Wohl zeigen uns der Albhöhe schon entfernte Zeugenberge und Vulkanschlote, dass das Gebirge vor 15 Millionen Jahren 25 Kilometer weiter nach Nordosten ragte, es weicht 1,6 Millimeter jedes Jahr zurück, während eines Menschenlebens also kaum zu erkennen. Manchmal wiederum – zum Glück mit über hundertjährigen Abständen – krachen ganze Berghänge mit apokalyptischem Brausen auf einmal herab.

 Foto: 2012

Der letzte große Bergsturz auf der Alb geschah am 12. April 1983 am Hirschkopf nahe Mössingen fast unbemerkt. Nebel verhüllte seit Tagen den Trauf, Regen fiel in rauen Mengen. Noch um neun Uhr fiel dem erfahrenen Förster bei seiner Routinefahrt nichts auf. Um 13 Uhr aber fehlte schon der Weg, der Waldmann sah gebrochene Bäume. Jetzt wurde Armin Dieter gerufen, Student aus Belsen nahe des Berges. Dieter hatte einen Ruf als Naturfotograf, der den Hirschkopf kannte, wie keiner sonst. Deshalb wurde er beauftragt zu erkunden, was da oben geschah. Armin Dieter geriet unversehens in einen Albtraum. Ganze Wälder rutschten an ihm vorbei, die Bäume aufrecht, und schließlich riss die Erde auch ihn zu Tal. Unversehens kam er zum Stehen und versuchte die Flucht nach Westen. Aber da ragte eine acht Meter hohe Felsbarriere, wo früher nie eine war. Erst im Osten entkam Dieter dem Inferno.

Als sich am Folgetag der Nebel verzog, klaffte eine Wunde im Albtrauf, weit vom Unterland sichtbar. Auf 600 Meter Breite hatten sich die von den enormen Niederschlägen aufgequollenen Gesteinsschichten gelöst. 4 Millionen Kubikmeter Erde und Geröll waren mit allem, was darauf wuchs und lebte zu Tal gerauscht, insgesamt wog der Erdrutsch über acht Millionen Tonnen. Die Rutschzunge reichte einen Kilometer ins Tal, eine Realität, die Hollywood- Katastrophenszenarien leicht in den Schatten stellte. Aber Regen und Nebel hatten auch das infernalische Grollen verschluckt.

Der Mössinger Bergrutsch schaffte es zum deutschlandweiten Medienereignis. Bald hatte die heimische Polizei alle Hände voll zu tun, Schaulustige abzuhalten, sich im Rutschgebiet, das bis heute in Bewegung ist, in Lebensgefahr zu begeben. Was aber als „Tod der Natur“ und „Katastrophe“ stilisiert wurde, bewies, dass gerade im Wandel der Natur Trost und Faszination liegen. Im Rutschgebiet am Hirschkopf vollzogen sich eigentlich vieltausendjährige Naturprozesse im Zeitraffer. Tümpel entstanden im Geröll, seltene Tiere, wie die Europäische Sumpfschildkröte kamen – und gingen. Denn inzwischen wandelt sich die Vegetation zurück zum Mischwald, wie wir ihn überall kennen auf der Alb. Armin Dieter hat das Wunder des Vergehens und Werdens in seiner Heimat niemals mehr losgelassen. Unermüdlich steigt er durchs gefährliche Gelände und hält den sensationellen Wandel fotografisch fest.

Bergrutsch: Die Wunde am Hirschkopf, rund 600 Meter breit und einen Kilometer lang, ist aus der Luft deutlich zu sehen. Sie gliedert sich in Steilwand (neuer Albtrauf), einen Keil stehengebliebenen Waldes, ein Geröllfeld und gestürzten Bäumen unter dem Hang. 

Was Dieter vor 30 Jahren beinahe das Leben kostete, hat der Naturfotograf heute zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Neben Dia­vorträgen über heimatkundliche Themen (meistgebucht jener über den Mössinger Bergrutsch) entstand 1985 im Bayerischen Rundfunk der erste von bislang 14 Fernsehbeiträgen. Dieter ist Buchautor (aktuell: „Nationaler Geotop- Mössinger Bergrutsch) ISBN 978-3-941500-00-6).

Als einziger Bergrutschführer Deutschlands, der 2006 in Hannover die Auszeichnung des Gebiets zum Nationalen Geotop mit entgegennahm, bietet er von Mai bis Oktober am ersten Sonntag im Monat Führungen ohne Voranmeldung an. Ebenso hat er die Infotafeln am Erdrutsch-Wanderweg gestaltet. Das Abweichen vom Weg ist wegen der Gefahr verboten. Weitere Infos auch zu Sonderveranstaltungen zum 30. Jahrestag bietet seine Homepage www.alberlebnis.de.

Nationales Geotop: Was als Katastrophe begann, wurde zu einem Wunder der Natur. In kahlen Geröllfeldern entstanden Tümpel und verlandeten wieder. Seltene Tiere waren am Hirschkopf Gast auf Zeit.

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Text: Marco Heinz / Fotos: Armin Dieter

Printausgabe: Sphäre 1/2013, Seite 34

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