Rettet die Milch

Grundsatzerklärung von Slow Food Deutschland zur Rohmilch

Unter dem Motto „Rettet die Milch!“ leitete Slow Food Deutschland auf der ordentlichen Mitgliederversammlung im Juni 2013 eine Rohmilch-Initiative ein. Das Thema soll in die Convivien getragen und auf gemeinsamen Veranstaltungen mit Partnern wie beispielsweise dem Bundesverband der Vorzugsmilcherzeuger erörtert werden.

Grundsatzerklärung (www.slowfood.de)

Rohe (unbearbeitete) Milch von Tieren ist ein zentraler Teil der Ernährung in unserer Kultur. Diese Milch zeichnet sich durch eine ungeheure Vielfalt geschmacklicher Qualitäten aus, die ihrerseits durch eine Vielzahl unterschiedlicher Inhaltstoffe hervorgerufen wird. Diese Inhaltsstoffe bestimmen nicht nur den Geschmack, sondern auch die Eigenschaften für die äußerst vielseitigen Möglichkeiten der Weiterverarbeitung. Leider sind wir es gewohnt, von Milch nur in der Einzahl zu sprechen. Um der Vielfältigkeit der Milch in Geschmack und Zusammensetzung gerecht zu werden, sollten wir den Plural von Milch – „Milchen“ – in unseren Wortschatz aufnehmen.

Doch davon sind wir weit entfernt, denn wir wissen von dieser Vielfalt heute kaum noch etwas. Die meisten Menschen schmecken die Vielfalt der Milch nicht einmal mehr. Durch extrem erfolgreiche Gewöhnung an das Lebensmittel Milch aus dem Kühlregal sind wir unsensibel für Vielfalt geworden. Milch ist gegenwärtig ein höchst industrielles Lebensmittel, für dessen Bewertung wir allein den Fettanteil und die Haltbarkeit heranzuziehen gewohnt sind.

Die Reduzierung der Milchvielfalt auf ein industrielles Produkt aber beraubt uns eines qualitativ hochwertigen und geschmacklich wunderbaren Lebensmittels, das Ausdruck von Landschaft, Tier und Mensch ist. Rohmilch und Rohmilchkäse sind so vielgestaltig wie die Tierarten (Rind, Schaf, Ziege, Pferd, Kamel, Rentier), deren Rassen, Regionen, Hersteller und Verarbeitungsweisen.

Nur aus guter Milch wird guter Käse. Analytisch sind hunderte verschiedener Substanzen in der Rohmilch nachgewiesen, und ihre Bedeutung für das Gedeihen und die Gesundheit des menschlichen oder tierischen Säuglings ist vielfach noch unerforscht. Aber man weiß, dass viele der besonders wertvollen Milchinhaltsstoffe nur in der ganz frischen Milch vorhanden sind, und dass sie nach kurzer Zeit und insbesondere nach Hitzebehandlung ihre ursprüngliche „Form“ und Qualität weitgehend verlieren.

Die Qualität der Milch ist abhängig vom Futter. Es macht einen großen Unterschied, ob die Kühe auf einer Kräuterwiese grasen oder sich mit präparierter Gras- und Mais-Silage (statt Heu), Hauptbestandteil einer Totalmischfutterration (TMR), begnügen müssen. Die Tierrasse spielt eine Rolle, ob die Milch von Angler („Butterkühe“), Jersey-, Murnau-Werdenfelser-Kühen oder von der allgegenwärtigen „Hochleistungseinheitsrasse“ Holstein Frisian stammt. Die Haltungsform der Tiere spielt eine ebenso wichtige Rolle, insbesondere, ob die Kühe auf die Weide dürfen. Auch die Sorgfalt des Bauer beim Melken und bei der Lagerung der Milch schmeckt man in der Milch. Nicht zuletzt wirkt sich die Schnelligkeit der Milchverarbeitung nach dem Melken auf die Milchqualität aus. Traditionelle Käse werden oft nur aus einem Gemelk, aus dem des Morgens oder des Abends, hergestellt. Dagegen wird heute die Milch vielfach nur alle zwei oder gar drei Tage beim Bauern abgeholt und danach nicht selten auch noch in der Molkerei „gestapelt“.

Von 1882 bis zum Dritten Reich wurden die Rahmenbedingungen in der Versorgung der Städte mit Milch vom Kaiserreich wegen gesundheitlicher Schwierigkeiten bei Mensch und Tier (Human- und RinderTuberkulose) und der vielfach mangelnden Hygiene vorgegeben und dann von allen Bundesstaaten in entsprechenden Anordnungen und gesetzlichen Regelungen umgesetzt. Hier entstanden Begriffe wie „Kindermilch“ und „Vorzugsmilch“ als Qualitätshinweise für eine mikrobiell sichere Rohmilch, die genossen werden konnte, ohne sie abzukochen.

Die von der nationalsozialistischen Regierung mit ihren zentralen gesetzlichen Regelungen veranlasste Einführung der heute noch üblichen flächendeckenden Hitzebehandlung der Milch ist zum einen als eine Maßnahme im Rahmen der Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges zu betrachten. Zum andern beförderte sie die Entwicklung der großbetrieblichen Strukturen der deutschen Milchwirtschaft. Die Milchverarbeitung auf den Bauernhöfen wurde verboten und durch die Milchablieferungspflicht an die vielfach neu gebauten und oft weit entfernten Großmolkereien gebunden; Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb diese Rechtslage erhalten, d.h. fast alle Milch muss seither über die Molkerei geführt werden.Heute werden die Verbraucher in allen europäischen Ländern, für die alle gleichermaßen die EU- Hygieneverordnung geltendes Recht ist, vor dem Genuss von Rohmilch gewarnt. Doch die Umsetzung in den einzelnen Ländern variiert. Beispielsweise wird in Österreich traditionell die unbearbeitete Milch heute noch über den Einzelhandel verkauft. Auch in anderen europäischen Ländern ist der Rohmilch-Verkauf gestattet, in Deutschland allerdings derzeit nur ab Hof und in begrenzten Mengen.

Es ist heute dem interessierten städtischen Verbraucher fast unmöglich, sich mit vertretbarem Aufwand mit Rohmilch zu versorgen. Das Sterben der kleinen Milchbauernhöfe und der kleinen Milchgeschäfte sowie die bürokratischen Schikanen einer Milch-ab-Hof-Abgabe, haben den Anteil von Rohmilch heute fast gegen Null gebracht. Auch die sogenannte Vorzugsmilch, zertifizierte Rohmilch, einst als Kinder- und Heilmilch konzipiert, droht vollständig vom Markt zu verschwinden. Heute gibt es in ganz Deutschland keine 40 Betriebe mehr, die Vorzugsmilch produzieren.

Rohmilch ist ein Lebensmittel von hoher gesundheitlicher Bedeutung. Zumindest bei der Muttermilch wird dies allgemein anerkannt. Obwohl auch Muttermilch stark mit Keimen belastet sein kann, käme trotzdem niemand auf die Idee, die Qualität der Muttermilch dadurch zu verbessern, dass man sie erhitzt.

Nachgewiesen ist die gesundheitsfördernde Wirkung des Rohmilchkonsums bei Asthma und allergischen Erkrankungen. In der öffentlichen Diskussion wird aber nicht dies hervorgehoben; vielmehr wird in den Mittelpunkt gestellt, wie riskant der Rohmilchkonsum sei. Wie bei vielen anderen Lebensmitteln gibt es auch bei Rohmilchkonsum abstrakte Risiken. Diese sind jedoch vergleichsweise sehr gering. Wo Risiken zu erkennen sind, z.B. bei Tuberkulose (TBC) in Rinderbeständen, sollte auf das Risiko hingewiesen werden, und der Staat sollte seiner Aufgabe der Seuchenprävention gewissenhaft nachkommen. Das gesundheitliche Risiko beim Verzehr (Genuss!) von Rohmilch ist weitaus geringer, als dies die „Ächtung“ von Rohmilch durch die staatlichen Regelungen rechtfertigen würde.

Wir sind souveräne Verbraucher! Wir wollen selbst abwägen, welche gesundheitlichen Vorteile wir mitnehmen und welche gesundheitlichen Risiken wir gegebenenfalls eingehen wollen – auch bei Rohmilch und Rohmilchkäse. Wir wollen uns die Vielfalt des Milchgenusses nicht verbieten und uns nicht dazu zwingen lassen, uns mit einer für das dominante Lebensmittelsystem bequemen, aber industriell bearbeiteten, weitgehend denaturierten Milch zu begnügen – die nicht zuletzt auf Großbetriebe und industrielle Tierhaltung setzt und weniger die erhaltenswerte kleinbäuerliche Landwirtschaft und nachhaltige Kreislaufwirtschaft fördert.

Daher fordert Slow Food Deutschland:

  • Der Erwerb von unbearbeiteter Milch muss einfach und unbürokratisch möglich sein.
  • Der Verkauf von sicherer Rohmilch über die (z.B. in Italien) bewährten Milchautomaten durch einzelne bäuerliche Betriebe ist auch außerhalb der Erzeugerbetriebe zu gestatten; auch der Absatz von Rohmilch durch den Einzelhandel muss ermöglicht werden.
  • Auf den Milcherzeugerbetrieben müssen praktikable, preiswerte Untersuchungsmöglichkeiten geschaffen werden, die den Milchbauern und den Konsumenten ein Höchstmaß an Sicherheit bieten. Ein Übertragen industrieller Methoden auf die Milcherzeugerbetriebe ist dabei ein nicht akzeptables Verfahren.
  • Die Milcherzeugerbetriebe müssen in die Lage versetzt werden, Milch und deren gesundheitliche Unbedenklichkeit selbst überwachen zu können.
  • Die Milchforschung ist zu verstärken, um die gesundheitlich bedeutsamen Bestandteile in der Rohmilch zu identifizieren und deren Wirkung zu erkunden.

www.slowfood.de

Sphäre-Wissen: Gründungsmanifest von Slow Food

Paris, 9. Dezember 1989 – Die Industriegesellschaft hat zuerst die Maschine erfunden und nach ihr das Leben modelliert. Mechanische Geschwindigkeit und rasende Beschleunigung werden zur Fessel des Lebens. Wir sind alle von einem Virus befallen: “Fast Life!”. Unsere Lebensformen sind umgestürzt, unser häusliches Dasein betroffen – nichts kann sich der “Fastfood-Bewegung” entziehen. Aber der Homo sapiens muss sich von einer ihn vernichtenden Beschleunigung befreien und zu einer ihm gemäßen Lebensführung zurückkehren. Es geht darum, das Geruhsame, Sinnliche gegen die universelle Bedrohung durch das “Fast Life” zu verteidigen. Gegen diejenigen – sie sind noch die schweigende Mehrheit -, die die Effizienz mit Hektik verwechseln, setzen wir den Bazillus des Genusses und der Gemütlichkeit, was sich in einer geruhsamen und ausgedehnten Lebensfreude manifestiert. Fangen wir gleich bei Tisch mit Slow Food an. Als Antwort auf die Verflachung durch Fastfood entdecken wir die geschmackliche Vielfalt der lokalen Gerichte. Fast Life hat im Namen von Produktivität und Rendite unser Leben verändert und bedroht unsere Umwelt. Slow Food ist die richtige Antwort darauf. In der Entwicklung des Geschmacks, und nicht in seiner Verarmung liegt die wahre Kultur. Und hier kann der Fortschritt dank einem internationalen Austausch von Geschichten, Wissen und Projekten seinen Anfang nehmen. Slow Food sichert uns eine bessere Zukunft. Slow Food ist eine Idee, die viele befähigte Anhänger braucht, damit aus der (langsamen) Regung eine weltweite Bewegung wird, deren Symbol eine kleine Schnecke ist.

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