Politik bis aufs Blut

Portrait: Matthias Erzberger – ein großer Mann der Schwäbischen Alb

Acht Revolverkugeln töteten Matthias Erzberger vor neunzig Jahren. Leben, Werk- und Opfer des Weltpolitikers aus Buttenhausen sind exemplarisch für den schweren Weg zur Demokratie.

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Noch kein Jahrhundert liegt es zurück, dass die Sprachmelodie der Schwäbischen Alb an Brennpunkten europäischer Politik erklang. Matthias Erzberger, ein Sohn des Lauterdorfes Buttenhausen, griff ab 1903 als Parlamentarier und Finanzminister in die Räder der Macht. Erzbergers Dienst am Land kostete enorme Kraft. Die Zeiten waren hart, geprägt von Armut, Krieg und Revolution. Bei allem dem Berufspolitiker eigenen Pragmatismus, ließ er seine Werte Christentum, soziale Gerechtigkeit und freiheitliche Demokratie niemals fallen. Dass wir gerade letztere heute im hohen Maß leben dürfen, verdanken wir auch ihm. Die Stadt Münsingen hält in Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter „Haus der Geschichte“ im Geburtshaus Erzbergers sein Andenken am Leben.

Heutige Besucher staunen über die Enge, in der dieser später so bedeutende Politiker mit Eltern und fünf jüngeren Geschwistern heranwuchs. Buttenhausen war das besondere Dorf. Die katholische Familie lebte mitten in der jüdischen Hälfte des Ortes, dessen christliche Bürgerschaft fast ausschließlich evangelisch war. Hier lernte er schon Offenheit und Toleranz. Niemals, auch nicht als hoher Würdenträger, würde er die Anliegen der kleinen Leute vergessen. Vater Josef Erzberger brachte es als Schneidermeister und Postagent zu bescheidenem Wohlstand, der ihm ermöglichte, seinen Ältesten in Internate zu schicken. Der sprachlich, didaktisch und rhetorisch hoch talentierte Matthias wurde Volksschullehrer, Publizist und ab 1903 Parlamentarier der katholischen Zentrumspartei im Berliner Reichstag. Schon der junge Erzberger fiel dadurch auf, dass er sich kaum um Fraktionsdisziplin kümmerte, nie seinen (breit schwäbisch sprechenden) Mund hielt. 1906 machte er furchtlos grobe Missstände in den Kolonien publik, womit er sich erste mächtige Feinde schuf.

1914, mit Ausbruch des Ers­ten Weltkrieges, der Urkatastrophe Europas, stimmte auch Erzberger ein ins allgemeine „Hurra“- Geschrei, angesteckt wie so viele vom krankhaft übersteigerten Patriotismus. Doch mit hohen zivilen Ämtern betraut (Zentralstelle für Auslandsdienst), erkannte er bald: Es gab für Deutschland in diesem Krieg nichts zu gewinnen. Erzberger forderte nun einen „Verständigungsfrieden“. Und er ging noch weiter: Regierungen wollte er in Zukunft direkt vom Parlament eingesetzt und von dessen Vertrauen abhängig sehen. Hier wurde er zum Pionier moderner Demokratie. Aber er war zu forsch, trug seine Ideen im Alleingang vor. Die Zahl seiner Feinde wuchs.

1918 waren die letzten verzweifelten Offensiven der deutschen Armee verpufft. Das Land war ausgeblutet an Mensch und Material. Regierung und Oberste Heeresleitung (OHL) wussten um die Notwendigkeit von Waffenstillstandsverhandlungen. In einem Eisenbahnwagen bei Compiègne, nahe der Front sollten sie statt finden. Die Alliierten wurden von Offizieren vertreten, aber die deutschen Militärs Ludendorf und Hindenburg, in ers­ter Linie Schuld am Kriegsdesaster, drückten sich. Das Kaiserreich schickte Zivilisten. Leiter seiner Delegation war – Matthias Erzberger.

In der Erzberger- Gedenkstätte ist die Szenerie im Wagon von Compiègne beeindruckend nachgestellt: Die Enge, die geschundene Kriegslandschaft vor dem Fenster, die nachgesprochene Stimme des französischen Marschalls Foch, die Stimme Erzbergers, der unter unmenschlichem Druck stand. Der Feind wollte nicht verhandeln. Er stellte für den Waffenstillstand Bedingungen brutalster Art.

Plötzlich hatte der Kaiser abgedankt. War Erzberger nun überhaupt noch legitimiert? Auf Anweisung von Regierung und OHL, die Bedingungen anzunehmen, beendete Erzbergers Unterschrift unter den Waffenstillstandsvertrag formell den Ers­ten Weltkrieg mit der Niederlage Deutschlands.

Die Bedingungen für den Friedensvertrag, berühmt und berüchtigt als „Vertrag von Versailles“, schockierten im Frühjahr 1919 Volk und Parlament: 13 Prozent der Reichsfläche als Gebietsverlust, Verlust aller Kolonien, Einzug allen deutschen Auslandsvermögens, alleinige Kriegsschuld, Reparationen in Milliardenhöhe, dazu Sachleistungen. „Unerträglich, undurchführbar, aber nicht unannehmbar“, rief Erzberger ins Parlament. Als weitblickender Mann erkannte er die Alternative: Einmarsch der Alliierten, Zersplitterung Deutschlands, noch mehr Not, noch mehr Hunger. Besonders auf das Drängen Erzbergers akzeptierte das Parlament den Vertrag von Versailles.

Nun wurden sie wieder laut, die Ludendorfs und Hindenburgs, die Militärs und Nationalisten, die das Land in den Wahnwitz des Krieges getrieben hatten, um sich später vor dem Metzgersgang nach Compiègne zu drücken. Sie verbreiteten die Mär vom unbesiegt im Felde stehenden Heer, dem zivile Politiker den Dolch in den Rücken getrieben hätten. Die „Dolchstoßlegende“ war der Humus, auf dem die NSDAP des Adolf Hitler groß werden konnte. Synonym für den „Dolchstoß“ war der Name Erzberger.

Jener wurde im Weimarer Kabinett von Kanzler Adolf Bauer Finanzminister. Somit hatte er all die Altlasten des Krieges samt den unerträglichen Reparationen zu stemmen. Erzberger erwies sich als Minister mit echter Kraft zur Reform. Unter nie gekannter Berücksichtigung sozialer Aspekte organisierte er das Steuerwesen völlig neu, machte es von der Länder- zu Staatsangelegenheit und schloss somit Steuerschlupf­löcher. Erstmals gab es Kapitalertrags-, Umsatz-, Grunderwerbs- und Erbschaftssteuer. Die progressive Staffelung der Einkommenssteuer nach Leistungsstärke, uns noch heute wohl vertraut, geht auf Erzberger zurück.

Bei allem, was er tat, hatte Erzberger das Machbare für sein Land versucht, das er liebte. Verstanden wurde er vom Volke nicht. Er galt als meist gehasster Mensch seiner Zeit. Durch eine Verleumdungskampagne des Abgeordneten Helfferich, Erzbergers bitterer Feind seit der Kolonialaffäre 1906, trat er 1920 als Minister zurück. Vier Anschlägen war er da schon entgangen. Auf einem Spaziergang bei Bad Griesbach im Schwarzwald begegnete er am 26. 8. 1921 seinen Mördern. Heinrich Schulz und Heinrich Tilessen, Angehörige der rechtsradikalen Organisation „Konsul“ richteten den 45-jährigen Vater zweier Töchter mit acht Revolverschüssen.

Matthias Erzberger war niemals schillernder Volkstribun. Doch verknüpft sich die jüngere Geschichte Deutschlands mit ihren dramatischen Brüchen eng mit seiner Person. Ein Gang durch die Gedenkstätte Buttenhausen öffnet Horizonte und hilft, sie zu verstehen.

Erzberger-Jahr: Münsingen gedenkt des Todestags

Matthias Erzberger erblickte 1875 in Buttenhausen das Licht der Schwäbischen Alb. In diesem Teilort Münsingens wuchs der Politiker auf. Zum 90. Todestag (✝ 26. August 1921) erinnert die Stadt an dessen Wirken mit einer Reihe hochkarätiger Veranstaltungen:

  • Vorstellung der neuen Erzberger- Biographie „Matthias Erzberger: Ein Leben für die Demokratie“ von Dr. Christopher Dowe und des neuen Ausstellungskatalogs zur Erzberger- Erinnerungsstätte des Hauses der Geschichte. 29. 9. 2011, 19 Uhr, Bürgerhaus Zehntscheuer Münsingen.
  • Filmvorführung „Gewaltfrieden: Die Legende vom Dolchstoß und der Vertrag von Versailles 1919″. Zweiteiliges Dokumentarspiel, Donnerstag 13. 10. 2011, 17 Uhr, Bürgerhaus Zehntscheuer Münsingen.
  • Rundgang durch die Erzberger-Gedenkstätte mit szenisch-literarischem Spiel, 5. 11. 2011, ab 15 Uhr, Erinnerungsstätte Matthias Erzberger, Buttenhausen.
  • Die beeindruckende, multimediale Erinnerungsstätte im Geburtshaus Matthias Erzbergers in Buttenhausen ist von April bis Oktober, sonn- und feiertags 13-17 Uhr geöffnet, Gruppen und an Werktagen nach Voranmeldung. November bis März Einzelbesucher und Gruppen nach Voranmeldung. Schulklassen sind besonders willkommen.

Infos unter www.münsingen.de oder www.erzberger-museum.de oder

Telefon Stadtarchiv Münsingen Tel. 07381 / 18 21 15

Marco Heinz

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Printausgabe: Sphäre 1/2011, Seite 28-31

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