Freilichtmuseen auf der Schwäbischen Alb
Wie haben die Älbler vor 50 Jahren, vor 100, vor 2000 oder gar 40000 Jahren gelebt? Weit über 200 Museen auf der Schwäbischen Alb geben genügend Anschauungsmaterial. In Beuren, Hechingen und Neuhausen aber erst wird Geschichte wirklich lebendig. Diese drei Freilichtmuseen nämlich vermitteln ein zum Anfassen realistisches Bild der unschlagbaren Lebensintelligenz unserer Väter und Mütter.
Gehen Sie mit auf Zeitreise durch schicksalreiche 280 Jahre. Gleich einem roten Faden zieht sich das winzige Tagelöhnerhaus aus Weidenstetten bei Geislingen durch einen Teil der Historie unserer schönen Alb. (Foto oben).
Man glaubt es heute kaum, aber nur 37 Quadratmeter Wohnfläche gerahmt von Bruchstein und Lehm genügten damals vielen Familien und Generationen als Kulisse für etwas Lebensglück – trotz aller Entbehrung.
Nur ein Stubenofen beheizte das Häuschen, der Herd hielt die kleine Küche warm. Die Toilette befand sich außerhalb des Gebäudes und war im Winter bitterkalt. Waschbecken oder gar Badezimmer? Fehlanzeige. Bis 1987 wohnte bei dieser Ausstattung das Ehepaar Habisohn rund 30 Jahre zur Miete. 1990 kaufte das Landratsamt Esslingen das Häuschen, das nun Stein für Stein abgetragen und neu errichtet im Freilichtmuseum Beuren steht.
Selbst die Vorhänge an den Eichenfenstern stammen von den Habisohns (Foto), wie auch ein Teil des Inventars (Foto unten). Die Datenbank der Landesdenkmalpflege notiert: Mobiliar, darunter Wandschrank (1914), Ofen, Buffet, Stube, Wandvertäfelungen, Alkoven (19. Jahrhundert).
Im Jahr 1957 zog das Ehepaar Johanna und Johann Habisohn in das Häuschen auf der Ulmer Alb ein. Sie waren als Sudetendeutsche 1945 ohne Hab und Gut aus der damaligen Tschechoslowakei geflüchtet. Sie blieben kinderlos.
Doch hatte das winzige Tagelöhnerhaus auch unter der Wildheit eines reichen Nachwuchssegens gebebt. Im 19. Jahrhundert gar weilte und teilte eine Familie mit acht Kindern den beengten Raum. Das kleine Gebäude am Ende der Dorfstraße gab in seiner 280-jährigen Geschichte nicht nur Tagelöhnerfamilien eine Heimstatt, sondern auch mal einem Schäfer, Weber und Maurer. Tagelöhner, so hieß einst die Unterschicht im Dorf. Sie lebten abseits am Ortsrand, was schon damals soziale Unterschiede bezeugt – selbst in einer bäuerlichen Überlebensgemeinschaft.
Die Geschichte des Häusleins aus der Geislinger Straße 42 beginnt eigentlich schon 1686. Im selben Jahr als Newton das Gravitationsgesetz ersann, erblickte Georg Schick das Licht der Albwelt. Er gilt als nachweislich erster Besitzer dieses Tagelöhnerhäuschens. 1719 heiratete er Anna Geiwitzin – Fahrenheit stellte das erste Quecksilberthermometer her. Drei Kinder bereicherten das Familienglück. Zu dieser Zeit zählte Berlin 24000 Einwohner.
1734 dann: In der Geislinger Straße wird gebaut – Russland gießt die größte Glocke der Welt. Durchmesser 6,60 Meter. Die überschirmte Fläche von 34,2 Quadratmetern entspricht fast der Wohnfläche von Schicks Eigenheim. Aber die Wand des Bronzemonuments ist dicker: bis zu 61 Zentimeter, ragt höher hinauf: 6,14 Meter und wiegt satte 201924 Kilogramm. Doch geläutet hat das Glockenmonster des Zaren nie, während Schicks Häuslein 280 Jahre zu 100 Prozent seiner Bestimmung entsprach: Es hielt warm, war gemütlich und das Dach hielt dicht. Sogar als es bis 1825 ausschließlich nur mit Stroh bedeckt war.
In dem Maße wie Ohm 1825 Gesetze formulierte, um Elektrizität formal zu erfassen, erhielt das Häuschen Ziegel um Ziegel ein Plattendach. Doch dauerte es weitere 100 Jahre, bis den Häuslesbesitzern in der Geislinger Straße ein Edison-Licht aufging. 1914 wird das Taglöhnerhäuschen elektrifiziert. Am ersten August desselben Jahres erklärt Deutschland der Welt den Krieg: 17 Millionen Menschen sterben.
Dieses Desaster haben das spätere Besitzerehepaar Anna Catharina und Balthasar Bayer nicht mehr erlebt. Wohl aber deren Kinder. 1888 stirbt Anna Catharina, der Witwer verbleibt mit Verwandtschaft im Haus, nachdem er es an seine Tochter Margarete verkauft hatte. Denn im Vertrag steht: „Der Verkäufer behält sich das lebenslängliche Wohnrecht im Stüble sowie einen Platz in der oberen Kammer zur Aufbewahrung seiner Gegenstände sowie die im Wohnhaus befindliche Küche zur Mitbenützung.“ Er stirbt 1894.
Fast 100 Jahre später – 1993 dann sollte sein Häuschen eine merkwürdige Wendung erleben: Es wurde umgesetzt, von A nach B, ins 60 Kilometer entfernte Beuren. Das Dach, beide Giebel und ein Drittel des Erdgeschosses haben Spezialisten abgebaut. Die Stube mit bruchsteingemauerten Außenwänden und farblich gefassten Innenwänden transportierte ein Tieflader in einem Stück. Seit dem 15. Mai 1998 haben diese vier Wände als Museumshaus viel erlebt. 50000 Menschen pro Jahr tauchen für nur wenige Besucherminuten in eine Kulisse ein, die für die Tagelöhner ihr ganzes Leben war.
Weiterführende Links
Hier können Sie die Geschichte des Weidenstettener Tagelöhnerhauses nacherleben, eines der 27 Gebäude des Freilichtmuseums Beuren.
- Kurzbeschreibung des Tagelöhnerhauses im Freilichtmuseum Beuren >>
- Objektdaten des Tagelöhnerhauses aus Weidenstetten in der Datenbank der Landesdenkmalpflege >>
Freilichtmuseen auf einen Blick
Freilichtmuseum Beuren: Albgeschichte zum Anfassen
Entdecken Sie die schwäbische Kraft der Handarbeit und Sparsamkeit. Ob Schreinerwerkstatt oder Schlafkammer, ob Stall oder Scheune, ob Weberhaus, Back- und Waschhaus, Rathaus oder Fotoatelier: die 27 Häuser im Freilichtmuseum Beuren, Museum des Landkreises Esslingen für ländliche Kultur, kennen viele Geschichten aus dem früheren Alltag der Landbevölkerung.
Die authentisch restaurierten Gebäude stammen aus den Regionen Mittlerer Neckar und Schwäbische Alb. In und um die historischen Wohn- und Wirtschaftsgebäude spiegelt das Wohnen, Arbeiten und Leben vergangener Tage wider.
Freilichtmuseum Neuhausen/Eck: Gelebtes Leben erleben
Die 25 wieder aufgebauten Häuser aus den Landschaften Schwäbische Alb, Schwarzwald, Bodensee, Hegau, Baar und Oberer Neckar geben Einblicke ins ländlich-bäuerliche Leben früherer Zeiten. Durch ihre authentischen Möbel und Einrichtung vermitteln die Wohn- und Arbeitsstätten ein wirklichkeitsnahes Bild, wie es einst in einem Bauernhaus und auf dem Dorf aussah. Ein richtiges Albdorf, indem sich rund um den Dorfbrunnen Kirche, Schul- und Rathaus, Schmiede, Hafnerei, Farrenstall und sogar das berühmte, Kaufhaus Pfeiffer gruppieren, machen den Zeitsprung perfekt. Das Museum lebt: Wie in Beuren gibt´s alte Haustierrassen – Kühe, Schafe, Esel, Schweine, Gänse und Hühner.
Römer-Museum Hechingen-Stein: Geschichte unter den Füßen
Es konnte niemand ahnen, welch große und gut erhaltene römische Gutsanlage hier fast 1700 Jahre unter dem Waldboden gelegen hatte. Die bei Ausgrabungen 1971 freigelegten Mauern waren vorzüglich mit einer Höhe von über zwei Metern erhalten.
Ein Förderverein nahm sich dem Zeugnis provinzialrömischer Geschichte an. So rekonstruierte er einen Teil des Hauptgebäudes im Maßstab 1:1. Seit der Eröffnung des Museums im Jahr 1992 hat der Verein die Ausgrabungen wieder aufgenommen. Fundgegenstände aus Keramik, Metall und Glas sind in den voll eingerichteten Räumen ausgestellt, wie der Kopf einer Venusstatue aus Sandstein.
Bauernhausmuseum Ödenwaldstetten: Dorfgeschichte hautnah erleben
Zum 5,8 Hektar großen Museumskomplex gehören zwei Gebäude einer Althofstelle aus der Zeit um 1600 und von 1859. Gleich einem Mini-Freilichtmuseum zeigen sie, wie Albbauern einst wohnten und arbeiteten. Besucher können Festtagskleidung bestaunen, aber auch die Textilie des Alltags. Die Ausstellung alter Spielsachen und Teddybären erfreut besonders die Kleinen.
Eine große Remise beherbergt die landwirtschaftlichen Maschinen – die Zeitzeugen technischen Fortschritts. Ein Bauerngarten mit seltenen Kulturpflanzen, Heil- und Gewürzkräutern wie ein landwirtschaftliches Schaufeld runden das Ensemble ab.
Heuneburgmuseum Hundersingen: Zeitreise: 2600 Jahre mussten vergehen
Zwei Museen zeigen heute die faszinierende Welt der Kelten zur frühen Eisenzeit. In der 1783 erbauten Zehntscheuer zeigt das Heuneburg-Museum originale Funde der Archäologen und visualisiert multimedial die Mensch von damals. 2017 gibt es eine Sonderausstellung zum Thema Keltische Streitwagen. Zwei Kilometer entfernt fasziniert das Freilichtmuseum Heuneburg, ein Gutteil von Pyrene, der ersten namentlich bekannten Stadt unseres Landes ist hier rekonstruiert. Der Besucher taucht beim Gang über die Wehrmauer, durchs Langhaus der Fürsten, entlang der Speicher und Wohnhäuser taucht der Besucher ganz unmittelbar in die faszinierende Welt von damals. Mittels archäologischer Experimente spüren auch Kinder, wie das Leben ihrer Vorfahren war.
Ein acht Kilometer langer Wanderweg zwischen den beiden Museen entlang der Grabhügelketten informiert über die Arbeit der Archäologen und rundet den Erlebnistag Pyrene ab.
Beide Museen geöffnet ab Anfang April bis Ende Oktober.
Info-Rundweg und Museum Gruorn: Verlassenes Albdorf auf dem ehem. Truppenübungsplatz
Das ab 1939 geräumte Dorf Gruorn nimmt auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz eine herausragende Sonderstellung ein. Dem besonderen Engagement des „Komitees zur Erhaltung der Kirche in Gruorn e. V.“ ist es zu verdanken, dass nach Aufgabe der militärischen Nutzung das Gelände im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten „wiederbelebt“ wurde. Das Leben der Gruorner Bürger und die Geschichte des Dorfes erlebbar zu machen, hat sich das Komitee zur Aufgabe gemacht. Das alte Schulhaus und die Stephanuskirche entwickelten sich seit der Schließung des alten Militärgeländes und Öffnung für das Publikum im Jahre 2006 zum Besuchermagnet.
Seit November 2011 wurde der mit 15 Infotafeln bestückte Rundweg durch das verlassene Dorf Gruorn (ehem. Truppenübungsplatz) eingeweiht. Hier wird ein Stück Albdorfgeschichte lebendig. Hans Lamparter, Vorsitzender des Gruorner Komitees war seiner Zeit stolz: „15000 Euro kosteten die mit viel Sachwissen gestalteten Schilder.“ Ebenfalls besuchenswert sonn- und feiertags: Die Stephanuskirche (im Hintergrund) und das Museum samt Gastronomie im alten Schulhaus.
- Rundweg stets geöffnet, Museum im Alten Schulhaus und Stephanuskirche geöffnet ab Anfang April bis Ende Oktober.
- Der ehemalige Truppenübungsplatz ist das ganze Jahr für Besucher geöffnet.
Arche des Lebens: Ehemaliger Truppenübungsplatz konserviert 100 Jahre Natur
Nicht alle Dinge, die aus dem Leben verschwinden, erzeugen auch Wehmut. Dem Truppenübungsplatz bei Münsingen beispielsweise trauert kaum jemand nach. Denn auf die Ängste und bedrohlichen Kriegserinnerungen verzichten nicht nur die Anwohner gern, deren Alltag donnernde Übungsgranaten und röhrende Panzermotoren akustisch untermalten. Jede Münze besitzt zwei Seiten. In diesem Fall brachte die Schließung des 100 Jahre alten Kriegstrainingsplatzes am Ende des Jahres 2005 nicht Schatten, sondern Licht. Der Soldatenbetrieb konservierte eine Kulturlandschaft, so wie sie die Albbewohner vor 100 Jahren sahen.
Dass dies zeitlich zusammenfiel mit den verwaltungstechnischen Vorbereitungen für das erste Biosphärengebiet im Ländle, bescherte ein weiteres Glück. Denn wer einem von der UNESCO zertifizierten vorbildhaften Lebensraum gerecht werden will, muss Neues schärfer überdenken. Altes erscheint plötzlich in anderem Licht. So haben die folgenden elf Jahre nach der Stunde null des nun öffentlichen ehemaligen Übungsgeländes Urwälder, historische Gebäude-Ensembles, Traditionen und Lebensgefühle fürs nächste Jahrtausend salonfähig gemacht.Sehenswert im ehem. Truppenübungsplatz:
● Größte von Schafen geprägte historische Kulturlandschaft der Region
● Verlorenes Dorf Gruorn mit Informationspfad und Ausstellung (oben)
● 42 Meter hoher Stahlgitterturm Hursch bietet selten schönen Weitblick
● Asphaltierte Wanderwege, ideal für Fahrrad und E-Bike
● Schneewanderungen auf weiß geräumten Schneewegen möglichMehr Infos und Kartenmaterial hier >>
Weitere Besichtigungsziele: Interaktive Karte „Blaues Wunder“
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Printausgabe: Sphäre 1/2014, Seite 32