Alb-Denker

Geschichte & Personen: Martin Heidegger

 

„Wohl verringert sich rasch die Zahl derer, die noch das Einfache als ihr erworbenes Eigentum kennen. Aber die Wenigen werden überall die Bleibenden sein. Sie vermögen einst aus der sanften Gewalt des Feldweges die Riesenkräfte der Atomenergie zu überdauern, die sich das menschliche Rechnen erkünstelt und zur Fessel des eigenen Tuns gemacht hat.“ (Aus Martin Heidegger „Der Feldweg“)

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Die Schwäbische Alb ist ein kompakter Gebirgskörper von etwa 200 Kilometer Länge und 40 Kilometer Breite. Wer an ihren Felsen wandert, etwa am steilen Trauf im Norden oder im spektakulären Durchbruch der Donau im Südwesten, der glaubt schon einen Teil Ewigkeit zu spüren. Unser Verstand aber weiß es anders: Auch ein Gebirge ist Werden und Vergehen. Die Alb entstand vor fast 200 Millionen Jahren durch Ablagerungen im Jurameer. Seit dieser fast undenkbar langen Zeit ist sie geologischen und klimatischen Wechselfällen unterworfen, die ihr aber erlaubten, ihren unverwechselbaren Charakter zu entwickeln. Als Kind ihrer begrenzten Zeit wird sie nach weiteren Jahrmillionen die Erosion zerrieben haben oder durch ganz unerwartete Erdereignisse zerstört sein.

Ein Denker, der seine Zeitgenossen zu ähnlichen Betrachtungen inspirierte, ist der unweit des südlichen Albrandes geborene Weltphilosoph Martin Heidegger. Er lehrt uns: „Das Dasein vom Standpunkt der Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit her zu betrachten, kann kein Mineral, keine Pflanze, auch kein Tier, sondern alleine der Mensch.“ Seine Betrachtungen des „In-der-Welt-Sein“ wurden ungeheuer populär.

Sein eigenes Dasein begann 1889 im pittoresken Meßkirch, zwischen Alb und Bodensee gelegen, als Sohn eines armen katholischen Küsters. Stipendien und Mildtätigkeit der Kirche ermöglichten Internatsaufenthalte in Konstanz und Freiburg. Der tüchtige Gymnasiast Heidegger aber schlug den scheinbar vorgezeichneten Weg zum Priester nicht ein. Körperliche und psychische Krisen schon in jungen Jahren lehrten ihn seine wahre Berufung. Seit der Jugend durch Werke großer Philosophen angeregt, wollte er selbst universeller Denker werden. Während des Studiums der Philosophie, der Natur- und Geisteswissenschaften in Freiburg bewies er sein Talent. 1913 legte er seine Doktorarbeit ab und erlangte schon zwei Jahre später selbst die akademische Lehrerlaubnis. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Assistent seines Freundes und Vorbildes Edmund Husserl an der Freiburger Hochschule. Schon bald sprach sich die Kraft seiner Vorträge über Philosophen wie Aristoteles und große Themen wie Phänomenologie herum. 1923 folgte er als außergewöhnlicher Professor dem Ruf der Universität Marburg in Hessen. Vier Jahre später erschien Heideggers Werk, das ihn zum Weltphilosophen hob: „Sein und Zeit.“ In schwieriger Kunstsprache legt Heidegger hier die Summe seines Philosophierens dar. „Sein und Zeit“ blieb Fragment und hat doch Wellen geschlagen, wie kaum ein anderes Werk des zwanzigsten Jahrhunderts. Die einen beschimpften es als Scharlatanerie, andere verglichen es mit den Werken der Großen: Platons Politik, Kants Kritik der reinen Vernunft, Hegels Phänomenologie des Geistes.

Heidegger ist einen dritten Teil von „Sein und Zeit“ schuldig geblieben. Und doch traf er die unterdrückte Sehnsucht eines nüchtern technologischen Jahrhunderts, mit einem Gedanken, der in unsere Gegenwart übersetzt etwa so lauten könnte: „Wer durch die Biosphäre der Alb spaziert, der möchte sich wohl nicht ständig in Gedanken über wissenschaftliche Details ergehen, auch nicht, wenn er Geologe oder Biologe sein sollte.“ Der Mensch möchte über das Sein als Ganzes sinnieren und genießen – hier die Harmonie und Schönheit der Landschaft. Weil wir als Seiende das Dasein als endlich überschauen, ist unser Grundgefühl eine gewisse Angst. Aber wir finden auch Kraft, über unser Leben zu bestimmen. Auch unser Charakter wird von äußeren Faktoren mitgeprägt, aber der Mensch als Seiender kann bestimmen: Will er diesen Sphäre-Artikel weiterlesen, will er eine Familie gründen und mit welchem Partner, will er ein ökologisch nachhaltiges Leben führen? Hier geht Heidegger in den Kontrast zum alten Griechen Aristoteles, für den solche Entscheidungen ohne wirklich eigenen Einfluss mit uns geschehen. Naturwissenschaftler der Gegenwart geben dem antiken Denker in diesem Punkt gegen Heidegger (leider) recht.

Heidegger übernahm 1928 Husserls Lehrstuhl in Freiburg. Durch seine umstrittene Rolle in der Nazizeit, als zumindest anfangs auch der große Denker Heidegger sich vom Bösen blenden ließ, hatte er nach dem Krieg zeitweise Lehrverbot. Heidegger publizierte und dozierte privat. Sein Themenkreis war breit gefächert, er analysierte die Werke von Philosophen wie Nietzsche, dozierte über die Dichtung Hölderlins über Zeit und das Nichts. Manch einer glaubt aus den Aufzeichnungen seiner Vorträge die Fortsetzung von „Sein und Zeit“ zu erkennen.

Heidegger liebte das Einfache und die Natur über alles. In seiner asketischen Hütte am Todtnauberg im Schwarzwald (Wasser gab es am Brunnen, Strom erst in späteren Jahren) schmiedete er die bes­ten Gedanken beim Anblick der Bergwälder und Wolkenspiele. Hatte er des Winters Studenten zu Gast, lehrte er sie das Skifahren ebenso gut wie das Philosophieren. Er fühlte sich „geworfen“ (Heideggers Kunstsprache) in die ländliche Welt Süddeutschlands, pflegte und liebte die Lebensart und das Idiom seiner badischen Heimat. Zweimal lehnte er Berufungen an Berliner Hochschulen ab. In der Metropole, glaubte er, unterzugehen. Kleinere, damals noch beschauliche Städte wie Freiburg und Marburg waren für ihn schon die Grenze des Zumutbaren. Heidegger sprach und kleidete sich wie ein Landmann. „Bäuerlein“ nannten ihn Zeitgenossen spaßhaft. Aber dieses Bäuerlein sprach zwar langsam in alemannischem Akzent, und doch war seine Rede so mitreißend, dass er ein philosophischer Star seiner Zeit wurde.

Heidegger starb 1976 und fand die letzte Ruhe neben seinen Eltern auf dem Friedhof von Meßkirch. Wenn dort der Wind von Norden weht, bringt er den herben Hauch der Alb mit hinüber. Heidegger, auch wenn er mit den Jahren mit dem Katholizismus brach, liebte das Kloster Beuron im Donaudurchbruch. Nach allem was wir wissen über seine Naturliebe und beim Betrachten seines Zitates über die „Kraft des Feldweges“, ist es nicht vermessen zu behaupten: Hätte es seinerzeit schon das Biosphärenreservat auf der Schwäbischen Alb gegeben, Heidegger wäre sein Freund gewesen und manches Mal aus seiner badischen Heimat herübergekommen.

 

Museum Meßkirch: Weltphilosoph vom Rande der Alb

Meßkirch, die Heimat Heideggers, jeweils rund 20 Kilometer von Sigmaringen und Beuron entfernt gelegen, besticht durch einen sehenswerten mittelalterlichen Altstadtkern. Heidegger ist nicht der einzige prominente Sohn des Städtchens. Bekannte Künstler stammen von dort, etwa der Komponist Conradin Kreuzer. Aktuelle Stars aus Meßkirch sind die Geschwister Hofmann. Das Renaissanceschloss ist das erste vierflügelige nördlich der Alpen. Es beherbergt drei Museen: ein Oldtimermuseum, die Kunstgalerie des Landkreises Sigmaringen und das Heidegger-Museum.

Ein Ausflug lässt sich verbinden mit einem Abstecher in den Naturpark Obere Donau. Der wildromantische Durchbruch des jungen Flusses durch die Alb sucht seinesgleichen. 80000 Touristen zieht es jährlich in die vom Nahverkehr bestens erschlossene Felsenwelt, mit rund 100 Burgen oder Ruinen. Martin Heidegger liebte die ehrwürdige Benediktinerabtei Beuron, tief unten im Donautal.

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Printausgabe: Sphäre 1/2012, Seite 34-35

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