Nationalpark: Stilfser Joch

 Nationalpark Stilfser Joch – im Licht und Schatten des Ortlers

Wenn die Gipfel schwarz werden. Wie ein Trauerflor umgibt den Ortler ein tristes Grau. Gletscher schmelzen, Muren krachen ins Tal. Im Nationalpark Stilfser Joch treffen die Lichtseiten einer faszinierenden Eiswelt und der Schatten durch Klimaerwärmung lebensbedrohlich aufeinander. Noch heute sind die Folgen des gigantischen Bergrutsches von 1987 dramatisch sichtbar.

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Schwarz-Weiß- Malerei

Wenn die Gipfel schwarz werden. Wie ein Trauerflor umgibt den Ortler ein tristes Grau. Gletscher schmelzen, Muren krachen ins Tal. Im Nationalpark Stilfser Joch treffen die Lichtseiten einer faszinierenden Eiswelt und der Schatten durch Klimaerwärmung lebensbedrohlich aufeinander. Noch heute sind die Folgen des gigantischen Bergrutsches von 1987 dramatisch sichtbar.

Schleifen, fräsen, raspeln – wer hat die Landschaft des Nationalparks Stilfser Joch modelliert? Die Gletscher. Sie schmirgelten während der letzten Eiszeit die Berge ab. Das ewige Weiß zählt in diesem Schutzgebiet zu den spektakulärsten Erscheinungen rund um Ortler, Königsspitze und Co. Sie begrenzen als höchste Gipfel das schöne Südtirol nach oben hin ab.

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 Ortler (3905 m) – Blick von der Payerhütte (3029 m).

Der Nationalpark erstreckt sich mit der berühmten Passstraße zum Stilfser Joch als optische und touristische Achse vom Vinschgau- Örtchen Prad im Norden bis ins fast schon mediterrane Bormio im Süden. Mittendrin thronen die gletscherreichsten Regionen mit dem 3905 Meter erhabenen Ortler im Zentrum. Das Ausgangsmaterial dieses massiven Gebirgskörpers wie Sandsteine und Tone entstammen aus einem tiefen Meer. Zum Vergleich: Der Kalkstock der Schwabenalb entstand aus Ablagerungen von Organismen in seichtem Gewässer.

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Könige der Lüfte haben ein Zuhause: 26 Paare Steinadler kreisen über den Talsohlen des Schutzgebiets. Im Rahmen eines Forschungsprojekts wurden in den Jahren 2000 bis 2008 elf Bartgeier ausgewildert.

Das Dach des Nationalparks also entstieg dem warmen Wasser hinauf in eisige Höhen. Ein ähnlich kontrastreiches Programm erlebt der Wanderer auf Touren: Aus der Sommerhitze des Tals hinauf zur Gletscherkälte der Berge. Oder von Nord nach Süd, wo in Bormio typisch italienisches Temperament einheizt, während im Norden einem eher nüchterne Kühle begegnet. Schwarz-Weiß eben, das wie in der Malerei als Stilmittel nicht nur Gegensätze unterstreicht, sondern als Kontrastprogramm ins Urlaubsleben mächtig Farbe pinselt.

Am besten bringen Radtouren die Faszination der zwei Seiten dieser Medaille auf den Punkt. Der Radweg Vinschgau zwischen dem Reschenpass über Prad hinab in die Kurstadt Meran beispielsweise fokussiert bäuerliche Berglandschaften einerseits, andererseits feudale Burgen, Schlösser, historische Städte und elitäre Museen. Diese Schmuckstücke reihen sich auf 86 autofreien Kilometern wie Perlen an einer Schnur. Das Schöne: Es geht fast nur bergab, insge­samt 1200 Höhenmeter bis Meran. Dieses Teilstück der Via Claudia Augusta lockt an heißen Sommertagen fast 5000 Radfahrer ins Vinschgau in den Schatten des mächtigen Ortlers.

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 Asphaltschlange – 48 Kehren zum Stilfser Joch.

Zu Weiß gehört hier immer auch Schwarz. Als Gegenspieler von beschaulichem Dahinrollen mit dem Rad wartet deshalb hier auch die maximale sportliche He-rausforderung: keine Gnade für die Wade. Der Nationalpark zelebriert jedes Jahr Anfang September seinen eigenen Radtag, einen Tag, den die Teilnehmer nie vergessen werden: 48 atemberaubende Kehren hinauf auf die dritt-höchste Passstraße der Alpen sind bereits Kult. Das Stilfserjoch wird für Autos gesperrt. Im Jahr 2016 gaben 8415 Radler von Prad (900 m) hinauf auf das Stilfser Joch (2757 m) ihrem Bike die Sporen. Von der lombardischen Seite erklommen den Pass weitere 2986 sportive Schwarz-Weiß-Maler. Sie alle suchten die sportliche Qual, um dadurch ein emotionales Superhoch zu erleben – geschafft.

Unvorstellbares leisten, dies war auch die Triebfeder der ersten Alpinisten. Den Ortler zu erobern galt als unmöglich. Und doch war die Erstbesteigung die Idee eines absolut unsportlichen Zeitgenossen. Johann von Österreich, seines Zeichens Erzherzog, wünschte sich von seinen Untertanen ein Gipfelkreuz. Am 26. September im Jahre 1804 nahm der Gemsenjäger Josef Pichler die Herausforderung an und zeigte dem damals noch eisgepanzerten Gebirgsriesen die Zähne. Seine Leistung zählte zu den bedeutendsten alpinistischen Ereignissen jener Zeit.

1850 noch bedeckten etwa 1200 Quadratkilometer Gletscher die Berge Italiens. Bis 1970 aber rannen bereits 35 Prozent des ewigen Eises als Schmelzwasser zu Tal. Während der globale Temperaturanstieg Anfang des 20. Jahrhunderts einer Mischung verschiedener natürlicher Faktoren und der beginnenden Treibhauseffekte durch die Industrielle Revolution zugerechnet wird, so gilt ab 1970 als Hauptursache für den beschleunigten Temperaturanstieg der CO2-Ausstoß von Wirtschaft, Energie, Verkehr und Heizung. Folge: Bis 2000 waren 50 Prozent der Flächen der 5150 Alpengletscher verschwunden und Ötzi erblickte nach 5000 Jahren im Eis wieder Tageslicht.

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1819 – die Gletscherzunge reichte fast bis Sulden.

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2017 – das ewige Eis zeigt hier seine Endlichkeit.


Übersichtskarte

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Viel Schatten im Lichte der Gletschernatur

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Nationalpark Stilfser Joch: Eigentlich sind es drei Parks. Seit 2016 haben Südtirol, das Trentino und die Lombardei eigene Verwaltungskompetenzen über den bereits 1935 eingerichteten Nationalpark. Ein Koordinierungskomitee allerdings wacht über gemeinsame Leitlinien.

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Namenlose Tote: Nur die Kirche San Bartolomeo oberhalb Morignone blieb verschont.

Welche Naturgewalt mit der Klimaerwärmung und dem auftauenden Permafrost einhergeht, musste der lombardische Teil des Parks erfahren: Ohrenbetäubender Donner hallte durch das Adda-Tal über die Dächer von Bormio hinweg. Gleichzeitig trieb eine Druckwelle orkanartig die Luft ausgehend vom italienischen Alpendörfchen Morignone vor sich her. Seit diesem Augenblick, dem 28. Juli 1987, gibt es dieses Dorf nicht mehr. Der Hausberg Pizzo Copetto begrub 53 Menschen und deren Heimstatt. Noch heute, nach 30 Jahren, transportieren ameisengleich, wie an einer Perlenschnur gereiht, die Lastwagen den einst 60 Meter hohen Gerölldamm (Foto oben). Die Schuttmassen stauten damals die Adda zu einem großen See. Der Damm drohte zu brechen.

Artikel zum Unglück hier >>

Nationalpark Stilfser Joch: 134620 Hektar (Kernzone 48904 Hektar) / Höhe: 650 bis 3905 m. Vergleich: Biosphärengebiet Schwäbische Alb 85300 Hektar, Ehem. Truppenübungsplatz Münsingen 3700 Hektar.

 

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 Pechschwarz – wenn das weiße Eis an der zu heißen Sonne verrinnt, bleibt nur zerriebenes Geröll.

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Printausgabe: Sphäre 3/2017, Seite 32-35

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