Tradition & Handwerk: Der weite Weg der Kartoffel auf die Schwäbische Alb
Kartoffelfeste auf der Alb zelebrieren alljährlich die tolle Knolle. Trotzdem: Hierzulande befindet sie sich auf dem Rückzug, in Entwicklungsländern aber marschiert sie voran.
Die sanften Strahlen der Septembersonne haben den Acker ausgetrocknet. Es staubt. Gebückt liest Jakob Eisenschmid auf, was der Schleuderroderer ans Tageslicht wirbelte (Foto in der Diashow am Artikelende). Faustgroße, gesunde Kartoffeln. In den 60er-Jahren war die Ernte mühsamer: „Kühe zogen den Pflug, um die Dämme umzuwerfen, damit die Kartoffeln zum Absammeln oben lagen“, erinnert sich der 83-Jährige an die Knochenarbeit. Schneller erledigt der Nebenerwerbslandwirt aus Römerstein erst seit 1956 die Feldarbeit. Sein erster Traktor ersetzte Sensen, Hacken und das Zugvieh, weitere Maschinen folgten in den Wirtschaftswunderjahren.
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Eine rasante Entwicklung, dabei ist die Frucht, die die Welt veränderte, in Europa erst seit 400 Jahren bekannt. Entdecker des amerikanischen Kontinents hatten 1565 die Knolle aus Südamerika im Gepäck. Erstaunlich, aber wahr: Schon 30 Jahre später landetete sie als Ziergewächs auf der Alb – im Schlossgarten in Wiesensteig. Grüblingsbaum nannte man den Exot wegen der an seiner Frucht zu Grübchen vertieften Augen. Baum, weil die ers-ten Pflanzen bis zu drei Meter hoch ins Kraut schossen.
Jahrhunderte zuvor züchteten in den Anden zwischen Bolivien und Peru die Inka und deren Vorfahren die Knollenpflanze in allen Varianten: rot, lila, gelb, süß, bitter, mehlig oder fest. In Höhenlagen bis zu 3800 Metern fühlte sich die Urkartoffel auf kargen Böden und trockenem Klima wohl. Aus ihr entwickelten die Indios viele Sorten, für jede Höhen- und Anbaulage eine andere. „Papa“ (= Knolle) nannten die Inka ihre wertvolle Frucht. Ein Durchbruch gelang den Hochlandbauern im Jahr 900: Kunstvolle Bergterrassen im steilen Gelände und Bewässerungssysteme bescherten reichere Ernte.
Heute führen die Bauern Perus die intelligente Anbaustrategie ihrer Vorfahren fort. Sie kultivieren an unterschiedlichen Orten auf vielen kleinen Äckern Hunderte Sorten. Auf diese Weise wappnen sie sich gegen wechselnde Klimabedingungen und verhindern, dass Pflanzenkrankheiten die gesamte Kartoffelernte vernichten.
Erste Spuren der Kartoffel in Europa dokumentierte im Jahr 1565 ein Geschenk König Philipp II von Spanien an den kranken Papst Pius IV. Zur Genesung bekam dieser die bis bis dato unbekannten Knollen geschickt. Dass Menschen in Spanien schließlich begannen, die Frucht anzubauen und Handel zu treiben, belegen Notizen in den Büchern des Hospital de la Sangre in Sevilla aus dem Jahr 1573. Erst 200 Jahre später erweckte Friedrich der Große in Deutschland das Ziergewächs aus dem Dornröschenschlaf. Er befahl den Bauern 1756, die Knolle in Preußen als Gemüse anzubauen.
Der Siegeszug der Kartoffel als Grundnahrungsmittel begann. Zu Kriegszeiten sicherte die Knolle in Deutschland mit 150 Kilogramm pro Person und Jahr das Überleben. In den fetten Jahren dagegen aßen die Menschen mehr Fleisch, der Bedarf an Speisekartoffeln halbierte sich. Heute liegt er bei nur 69 Kilogramm. Wegen billiger Mastmittel sank der Futterkartoffelanbau drastisch. Heute werden nur noch 1,2 Prozent der Ernte verfüttert, 60 Prozent kommen als Gemüse auf den Markt, 30 Prozent dienen zur Herstellung von Stärke. Nachdem die vielseitige Frucht ihr Dickmacher-Image verloren hatte, schätzen die Menschen sie nun als wertvoller Lieferant von Vitaminen, Mineral- und Ballaststoffen.
In Entwicklungsländern aber gehört die Kartoffel zu den vier wichtigsten Grundnahrungsmitteln neben Weizen, Reis und Mais. Hier werden 53 Prozent der weltweiten Kartoffelmenge produziert, mehr als in den Industrieländern. Und dies aus einem ganz bestimmten Grund. In Gebieten mit wenig fruchtbaren Böden schätzen Bauern die Effizienz der Knolle. Sie enthält ebenso viele Kalorien wie Weizen, benötigt aber nur die Hälfte der Anbaufläche. Sie lässt sich in großer Höhe kultivieren und braucht zum Wachsen weniger Wasser als Reis – die Kartoffel erfährt im Kampf gegen den weltweiten Hunger eine Renaissance. Doch: Des einen Freud, des anderen Leid. In Irland verwandelte sich der Kartoffelsegen 1845 bis 1849 in einen Fluch. Eine Million Menschen starben, als ein Pilz aus Nordamerika auf das für ihn günstige feuchtkalte Klima traf. Nur zwei Kartoffelsorten hatten die Bauern kultiviert – der Pilz befiel beide, alles war verfault.
An Missernten erinnert sich auch Eisenschmid. Er weiß aber auch: „Früher waren die Sorten resistenter, anders als die feinen Sorten heute.“ Und: „Jedes Haus hatte hier oben seinen Acker und eine Handvoll Vieh. Heute beherrschen wenige Große den Markt“. Zurück zu den Wurzeln? Auch bei Eisenschmids gibt´s Kartoffeln zu kaufen, nicht nur im Supermarkt. Dort allerdings nicht alleine als Gemüse, sondern zu 50 Prozent als Tiefkühlkost oder Industrieware wie Pommes oder Chips.
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Printausgabe: Sphäre 3/2011, Seite 06-07