Biosphärengebiet Schwäb. Alb

Geschichte: UNESCO-Anerkennung Biosphärengebiet

Wird die Biosphäre ein Überflieger? Die blitzschnelle UNESCO-Anerkennung zumindest treibt die Alb wie eine Gewitterthermik den Segelsportler zu wahren Höhenflügen. Nicht zuletzt deshalb gönnte sich der Minister­präsident Günter Oettinger am 26. Juni die Vogelperspektive. Zur feierlichen Übergabe der UNESCO-Urkunde segelte er mit dem Grand Prix Vizeweltmeister Uli Schwenk direkt ins Alte Lager Münsingen ein.

Der letzte Soldat schlägt die Tür ins Schloss. Ein steriles Klack hallt den dunklen Flur hinunter. Verloren hängt ein einzelnes Kalenderblatt halb abgerissen an der kahlen Wand der Kommandantur: 31. Dezember 2005 – dieses Datum besiegelt das Ende eines harten Regiments. Der Truppenübungsplatz gehört auf Ewig der Vergangenheit an.

Gleichzeitig aber markiert dieser Tag einen Neuanfang – die Geburtsstunde des Biosphärengebietes Schwäbische Alb. Über 100 Jahre dominierte das Militär den kargen Landstrich um den Truppenübungsplatz Münsingen herum. Die Reichsarmee, die Franzosen und die Bundeswehr hinterließen Spuren und tonnenweise Munition. Und plötzlich: Der eisige Silvesterwind treibt statt Kanonendonner nur noch leise den Schnee über das erstarrte Land. Doch dieser schwermütige Abschied ist zugleich ein farbenfroher Anfang. Denn: So wie unter Totholz neues Leben ans Licht drängt, schaffte das Vakuum durch den Abzug der Truppen Raum für Visionen.

Foto Hohen Urach: Typisch Schwäbische Alb – bis zu 400 Meter stürzt die Hochfläche wie hier ins Ermstal hinab. Härter kann der Kontrast kaum sein. An dieser markanten Hangkante gehen die Hitze der Ballungsgebiete und die Kühle des kargen Hochlands auf Tuchfühlung. Genau dieser faszinierende Kontrast war es, der dem UNESCO-Antrag die thematische Ausrichtung gab. Der urbane Charakter gilt als Alleinstellungsmerkmal unter den 15 nationalen Biosphärenreservaten. Das Spannungsfeld zwischen Natur und Mensch, Wirtschaften und Schützen soll das Biosphärengebiet Schwäbische Alb als Modellregion beispielhaft lösen.

Die Alb ist schön und lebenswert, dieses einmalige Natur- und Sozialgefüge soll UNESCO-Biosphärenreservat werden, so beschloss es Ministerpräsident Günter Oettinger in seiner Regierungserklärung zum Amtsantritt im April 2005. Eine halbe Dekade später schon, am 26. Juni 2009, fliegt der Landesvater mit einem historischen Segelflieger (Foto oben) ins Alte Lager ein. Er nimmt feierlich im glanzvoll geschmückten alten Offizierscasino die UNESCO-Urkunde für die Anerkennung der Schwäbischen Alb als Biosphärenreservat entgegen. Die erste Etappe ist geschafft.

Wer bei einem richtigen Stadt-Marathon mit tausenden Mitstreitern ins Ziel läuft, vergisst schnell, dass nur eine Promille der Menschen in der Republik überhaupt in der Lage ist, solch eine stolze Distanz über 42 Kilometer zu rennen. Ähnlich selbstverständlich wirkte der Zieleinlauf der Schwäbischen Alb samt Siegerehrung mit UNESCO-Urkunde. Dabei gehört die Schwäbische Alb zu den wenigen auserkorenen Schutzgebieten der Erde. Deutlich weniger als ein Promille der Globusfläche ist mit diesem Gütesiegel gesegnet. Momentan hat die UNESCO 500 Regionen diese Weihen gewährt.

Wie Marathonis nach der Zielgeraden drehten leichtfüßig die Biosphärenwettkämpfer Oettinger, der Minister für Ernährung und Ländlichen Raum Peter Hauk und Landrat Thomas Reumann mit engagierten Reden ihre Ehrenrunden vor fast 300 geladenen Gästen. Scheinbar spielerisch gelang dieser Etappensieg, doch wie für einen richtigen Marathon erforderte die Vorbereitung gewaltige Anstrengungen.

Landrat Reumann erinnert sich nur zu gut an den sportlichen Ehrgeiz, den sein Amt im Hochsommer 2005 entwickelte. Den Startschuss gab Oettinger, das Landratsamt übernahm den Staffelstab. Gleichzeitig aber spielten die Reutlinger die Rolle des Coachs. Also musste Reumann wie im richtigen Profisport erst einmal eine Leistungsdiagnose erstellen. Im Politikerdeutsch auch Machbarkeitsstudie genannt. Reumann und Co-Trainer Hans-Jürgen Stede, alias Erster Landesbeamter, mussten ordentlich schwitzen. „Schaffen wir im Landkreis, die Mindestforderung der UNESCO von 30.000 Hektar auszuweisen?“, bringt Reumann die Gretchenfrage auf den Punkt. Oettinger hatte es eilig, sehr eilig. Finden sich genügend Flächen, die als Kernzonen taugen? Drei Prozent der gesamten Biosphäre müssen vom Menschen unberührt sein, Wirtschaften und Eingriffe sind verboten. Hier sei die Natur einziger Herr der Dinge, so will es die UNESCO. Aber eben jene nutzungsfreien Waldgebiete treffen die Gemeinden empfindlich. Die Einnahmen durch Holzverkauf entlasten gerade heute den angespannten Haushalt merklich.

Binnen nur sechs Wochen lagen die Expertisen auf dem Tisch. Die möglichen Kern-, Pflege- und Entwicklungszonen waren ausgespäht, die Eckdaten der UNESCO-Anforderungen abgeklopft. Am Ende stand ein erfreuliches Fazit: Die Alb hat sehr wohl das Zeug für die Weltliga der Biosphärenreservate.

Foto ehemaliger Truppenübungsplatz: Biosphärenreservat – Der Mensch hat diesen scheinbar wilden Lebensraum geschaffen. Auf dem Truppenübungsplatz waren es die Panzer  (Foto unten) und Schafe, in den lieblichen Tälern die Streuobstbauern.

Bei dem Wettlauf mit der Zeit „gab uns die frischgebackene Verwaltungsreform gehörigen Rückenwind“, erläutert Reumann den unerwarteten Start-Ziel-Sieg. Denn seit der Reform gestaltet sich Verwaltung wie ein Marathonläufer rank und schlank. Kurze Wege, schnelle Entscheidungen, alle Ämter befinden sich nun unter einem Dach.

Virtuell reichte Reumanns starker Arm sogar bis aufs Dach der Alb. Denn mit einer ordentlichen Portion Sportsgeist beseelt, konnte er die drei Bürgermeister der Städte und Gemeinden rund um den ehemaligen Truppenübungsplatz als Pacemaker für die Biosphären-Idee gewinnen. Münsingens Bügermeister Mike Münzing trainierte ohnehin schon seit 1998 auf dem Parcour der Biosphäre. Michael Donth, Römersteins Bürgermeister und Markus Ewald, seinerzeit Rathauschef in Bad Urach, aber rückten das Pilotprojekt mit ihren positiven Gemeinderatsbeschlüssen in den grünen Bereich. Ihre Argumentationslinien und deren optimistisches Auftreten bereitete ein fruchtbares Klima für die folgenden politischen Diskussionen in den weiteren Gemeinden des geplanten Gebietes.

Sehr bewegt wurde über die Fragen der Finanzierung und Kernzonen gestritten. Bedenken, die sich aus den für die Landwirtschaft erlebten Einschränkungen durch die Auflagen von Natura 2000 nährten, prägten die skeptische Gesinnung. In Städten und Gemeinden wie Laichingen und Mehrstetten zeigten sich die Volksvertreter deshalb resistent gegen die spürbare Euphorie, die sich in der geplanten Biosphäre regte. Heute ragt daher beispielsweise die Gemarkung der Skeptiker aus Mehrstetten wie das berühmte gallische Dorf quasi als Niemandsland bis weit ins Herz der Biosphäre. Besonders Gastwirte sind darüber nicht glücklich. Froh, doch dabei zu sein, sind heute Ge­meinden wie Dettingen Erms, die seinerzeit wegen nicht geklärter Zonierungsfragen rebellierten.

Foto Ermstal, Bad Urach: Wildwuchs – Hangschluchtwälder waren immer schon mühsam zu bewirtschaften. Die eingeschränkte Nutzung förderte die Entwicklung seltener Waldgesellschaften. 

Aber genau dieser Prozess der Freiwilligkeit, der politischen Diskussion war gewollt. Diese Verankerung im Bewusstsein der Menschen vor Ort hat die UNESCO-Anerkennung begünstigt. „Überzeugen und begeistern“, dies war das Motto. Drum zog 2007 Dr. Wolf Hammann, seinerzeit Abteilung Umwelt im Regierungspräsidium Tübingen, von Gemeinderat zu Gemeinderat, von Stadtrat zu Stadtrat. Seinen Beinamen, Mister Biosphäre, verdankt er seinem hartnäckig engagierten Werben für dieses Pilotprojekt während der heißesten Phase. Auch Stede fuhr ins Land hinaus. So schwärmt er von einer seiner Startveranstaltungen im Oktober 2005, dem Info-Abend in Römerstein: „Die Halle war voll, 250 Besucher. Da wusste ich, hier geht was“, blickt Stede zurück. Zur Erinnerung: Römerstein war direkt vom Soldatenbetrieb betroffen. Lärm, eingeschränkte Bewegungsfreiheit – das Münsinger Hardt kappte die Lebenswege. Ja sogar eine Granate krachte in den 50er-Jahren ins Zaininger Schulhaus hinein. Und eben jene hart an der Grenze zum ehemaligen Truppenübungsplatz gehören heute zu den Motoren der Idee. Ob Gastwirte, Landwirte oder der Bürgermeister – diese kleine knapp 3500 Seelen-Gemeinde hat jetzt schon viele Biosphären-motivierte Projekte iniziiert. Beispiel: Das offizielle Biosphärenlädle betreibt die Römersteiner Metzgerei Schwenkedel, das erste Biosphärenmenue servierte dort das Gasthaus Löwen, den Dinkelanbau forcieren hiesige Landwirte und jetzt aktuell experimentiert der Römersteiner Traugott Götz mit dem 8000 Jahre alten Urkorn Emmer. Nicht zuletzt entstehen diese Zeilen des ersten und einzigen Biosphären-Hochglanzmagzins auf der Alb im SPHÄRE-Verlag Römerstein.

Land, Leute, Wirtschaft, Tier und Pflanze – in keinem Biosphärengebiet der Welt sind sich Ballungsgebiet und Natur so nah. „Einzig das Reservat Wienerwald um die österreichische Bundeshauptstadt herum zeigen eine ähnlich hohe Bevölkerungsdichte“, erklärt Reumann das Thema Urbanität und das Motto für den erfolgreichen UNESCO-Antrag. Hier Shopping-Tourismus Metzingen, dort das leise Plätschern der Lauterquelle, hier die dunklen wilden Hangschluchtwälder, dort die lichten und melancholischen Wachol­derheiden, dies ist eine Herausforderung und auch der Reiz für die UNESCO, solch ein Pilotprojekt in die Weltliga der Schutzgebiete aufzunehmen.

In klassischen Naturlandschaften leben maximal 2000 bis 3000 Menschen, wie beispielsweise im Biosphärenreservat Großes Walsertal (Österreich). Im frisch gebackenen UNESCO-Biosphärengebiet Schwäbische Alb aber tummeln sich satte 173000 Bürger. Sie müssen wohnen und arbeiten. Das Leitmotiv „Schützen durch Nützen“, soll hier zu einer gelebten Gestalt finden, zu einer neuen Gemeinschaft, ja sogar von Teamgeist spricht Reumann begeistert.

Foto Landwirtschaft bei St. Johann: Schützen durch Nützen – in der Biosphäre ist das Landwirtschaften ausdrücklich erwünscht – der Mensch ist Teil der Natur. Hier soll nicht die Käseglocke walten, sondern verfeinertes Bewusstsein und ökologischer Sachverstand.

Darum erinnert er sich gerne an den 3. Juni 2005, an den „Point­ of no Return“, wie er im Interview mit dem SPHÄRE-Magazin seinen persönlichen Startschuss beschreibt: Nach einem der ersten Biosphärentermine im Regierungspräsidium Tübingen treten er und die drei Bürgermeister Münzing, Donth und Ewald auf die Straße. Das Ziel war formuliert, Oettinger hatte die Marschrichtung vorgegeben. Was nun? Go. Keiner wollte jetzt zum Tagesgeschäft übergehen. Der Moment war für Reumann zu bedeutsam. Sie schlenderten gemeinsam gegenüber ins Cafe und bestellten sich ein Eis.

Eigentlich ist Politik ein kühles Geschäft. Parteien, Fraktionen und Lobbyisten lassen für gewöhnlich wenig Raum für so etwas wie Mannschaftsgeist. Der allerdings war in dieser Stunde spürbar präsent. Die Zeit war reif, die einzelnen Kirchtürme müssen zu tragenden Säulen einer übergeordneten Dachkonstruktion verwandelt werden. Die Biosphäre unter der Bauleitung der UNESCO war nun für Reumann beschlossene Sache.

Nur knapp ein Jahr später wurde aus dem Plan Realität. Grund: Der Truppenübungsplatz war für Besucher, und Bewohner ab April 2006 offen – jeder durfte in die Tabuzone rein. Die Vision einer beispielhaften Modellregion im Westentaschenformat war nun leibhaftig erfahrbar. Gleichwohl diese einzigartige Vorzeigenatur nur rund 6700 Hektar des heute insgesamt 85269 Hektar mächtigen Biosphärengebietes darstellt, avancierte dieses von Panzern und zehntausenden von Schafen geprägte wilde Land zum Motor für die Biosphären-Idee. Funk, Fernsehen, ehemalige Soldaten, Liebhaber der Alb – jeder wollte das sehen, was 100 Jahre weggeschlossen war. Alleine im Jahr 2008 führten die sogenannten TrÜb-Guides 20000 Besucher zu Fuß und Bus über den Platz. Mit den Individualwanderern, so schätzt die Geschäftsführerin des Biosphärenteams Petra Bernert, werden es ein Vielfaches an Besuchern gewesen sein.

Foto Wacholderheide bei Pfullingen: Generationenvertrag – die Wertschätzung und -schöpfung der Natur sichert die Zukunft unserer Kinder.

Diese unerwartete Resonanz macht stolz, stiftet Identität in der Biosphäre, die von Metzingen bis Ehingen reicht und von Westerheim bis Pfullingen. Aber dieses neue Wir-Gefühl begünstigt auch den Wettkampfgeist. Interessensgruppen des Naturschutzes und die Menschen vor Ort diskutieren heiß. Diese Meinungsvielfalt bereichert die Sicht der Dinge: Welche Wege auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz soll man öffnen, welche bleiben von Besuchern verschont? Warum dürfen LKWs auf die Panzerringstraße, aber beispielsweise die Radler nicht? Sollen oder dürfen die Jäger in Kernzonen schießen? Darf man im Bannwald wan­dern oder nicht? Ganz aktuell: Ist ein geplantes Ritterland bei Münsingen biosphärentauglich (siehe Seite 36)? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander, gerade diese Vielfalt der Stimmungsbilder aber belebt die Region.

Biosphärenpionier Mike Münzing erinnert sich lebhaft an die Diskussion im Jahre 1998 als er mit dem NABU-Landesverband zu einem Symposium nach Münsingen einlud unter dem Arbeitstitel „Modellregion Biosphärenreservat Mittlere Schwäbische Alb“. Der Gedankenansatz, „Arbeitsplätze durch Naturschutz“, sorgte für kontroverse Diskussionen, ein gemeinsamer Nenner war nicht in Sicht, erinnert sich Münzing an die Meinungslager. Den Denkanstoß gab Markus Rösler, der im Rahmen einer Doktorarbeit schon ab 1992 über das heutige Pilotprojekt nicht nur philosophierte, sondern gar druckreif formulierte. Im Jahr 2001 veröffentlichte er die an der TU Berlin eingereichte Dissertation als 390 Seiten starken Wälzer. Somit geht das Jahr 1992 als Stunde Null der Biosphärenzeitrechnung in die Geschichte der Schwäbischen Alb ein und nicht der letzte Soldat.

————————————————

Die Kommentare sind geschlossen.