Reisen anno dazumal

Geschichte & Personen

Die Schwäbische Alb hat schon früh feinsinnige Gemüter begeistert und inspiriert. Wilhelm Hauffs Roman „Lichtenstein“ gar hat Lebenswege skizziert. Sphäre-Autor Marco Heinz sprach mit einem fast 100-jährigen Freund der blauen Mauer.

PDF-Download: Print-Artikel runterladenPrint runterladen

Ein alter Herr trat ans Panoramafenster. Gebeugt, aber klaren Auges zeigte er zur Kette der Albberge und rief: „Der Lichtenstein!“ Ein winziger Punkt war das ferne Schloss am Horizont. Aber diesem Herrn hatte sich seine Lage tief ins Herz gebrannt, so mitreißend war die Geschichte, die ihn mit dem „Lichtenstein“ verband.

Im Zweiten Weltkrieg ging er durch das Inferno des Russlandfeldzuges. Nach einer Verwundung bei Smolensk endete seine Kriegsodyssee in einem französischen Gefangenenlager. Die Heimat in den Sudeten wusste er für immer verloren. Er durfte sich der deutschsprachigen Bibliothek eines Offiziers bedienen und fand darin den Roman „Lichtenstein“ von Wilhelm Hauff. Vom Schwabenland wusste er noch kaum etwas, aber jetzt las er Dinge, die ihn fesselten. Die Historie Württembergs ist nicht weniger faszinierend, belehrte der Dichter seinen Leser, seine Landschaften sind nicht weniger spektakulär, auch seine Mädchen nicht weniger lieblich, als jene Schottlands, wo die Phantasie der Literaten zu Hauffs Zeiten (1801-1826) der Mode nach weilte. Hauffs Botschaft ist gerade in dem jungen Biosphärengebiet aktuell: Lerne die Schönheit der Heimat lieben!

Unser Herr tat es ausführlich, nachdem er nach Scharnhausen auf den Fildern entlassen wurde. Die Alb stand am Horizont. Es lockte der Lichtenstein, nach Hauffs Beschreibung auf den Felsen gebaut. Sobald die Lebensumstände es zuließen, fuhr er mit seiner Frau da hinaus – eine Tortur auf klobigen Fahrrädern, ohne Training. Diese Menschen hatten Hunger nach Leben. Welch Zauber war die friedliche Reise zum verspielten Schloss, nach der Hölle, aus der sie kamen. Der Herr wurde beinahe 100 Jahre alt und vergaß sie nie, diese Reise auf die Alb. Und über Schwaben wusste er viel, bis zuletzt. Hier hatte er sich wahrhaft heimisch gefühlt.

Die Neugierde auf die Alb hatte schon mehr als anderthalb Jahrhunderte zuvor dem Tübinger Theologiestudenten Friedrich A. Köhler den Wanderstock in die Hand gedrückt, um zu Fuß nach Ulm zu ziehen. Als früher Pionier schildert er in seinem Bericht („Eine Albreise im Jahre 1790″) die Merkwürdigkeiten der „Wirthenbergischen Alpen“. Köhler schenkt uns tiefe Einblicke ins herbe Leben im damals weltabgewandten Gebirge. Er erzählt von Wildschäden, von Kot auf den Straßen, vom Vorteil Gächingens, eine frische Quelle statt einer brackigen Hüle zu haben, von Alkoholikern, aber auch von Freiheit und stillem Glück.

Das Reisen im großen Stil haben uns die Engländer gelehrt. Vom 18. Jahrhundert an machte der Adel Urlaub in der Ferne, mit Beginn der Industrialisierung zunehmend auch der Mittelstand. Man zog in Fuhrwerken, zu Fuß oder per Schiff durch die Lande. In Deutschland folgten sie zumeist dem romantischen Rhein. Noch blieb die Schwäbische Alb am Wegrand liegen. Die fortschreitende technische Entwicklung im Buchdruck aber machte es möglich, Landschaften durch Stahlstich und Lithographie optisch auch in die deutschen Wohnzimmer zu vermitteln. In seiner 1837 fertig gestellten „Wanderung durch Schwaben“ griff auch der Dichter und Lehrer Gustav Schwab darauf zurück. Er würzte seinen Bildband, der sich auch ausführlich mit der Alb befasst, mit allerhand Information über Geographie und Geologie, vermischt mit dichterisch, romantischen Einleitungen. Immerhin war er mit seinem Reiseführer dem berühmten Baedecker noch eineinhalb Jahrzehnte voraus. Darstellungen in Wort und Bild von Lichtenstein und Hohenzollern waren in jener Zeit schon anderweitig bekannt. In der Sammlung „Romantische Reise durch das alte Deutschland“ 1969 als Lizenzausgabe des Hamburger Verlages Rolf Müller erschienen, tauchen sie wieder auf.

In der Oberamtsbeschreibung Pfullingen von 1824 wird dem potentiellen Albwanderer in liebevollen Details die Schönheit der Umgebung schmackhaft gemacht. In den Archivtexten von 1893 lesen wir dann: „Der Pfingstmontag ist ein großer Festtag für das ganze Oberamt. Da wallfahrten Tausende aus ganz Schwaben zu Fuß und zu Wagen über die Wanne und den Wackerstein nach der berühmten Nebelhöhle.“ Ab 1824 sind im Stadtarchiv Pfullingen Konzessionen für Gastronomie und Übernachtungsbetriebe überliefert. Die Sportel (Genehmigungsgebühr) für die heute nicht mehr existente Gastwirtschaft „Hirsch“ betrug um 1900 120 Mark.

1888 riefen im Plochinger Gasthof „Waldhorn“ 12 Vertreter von sieben „Verschönerungsvereinen“ den „Schwäbischen Albverein“ ins Leben. Schon ein Jahr später begann der Verein systematisch die Alb zu kartografieren, schlug Wegweiser an und schuf neue Wanderwege. Auf Grundlage zweier Hauptwanderwege erwuchs ein Wegenetz, das heute ganze 23000 Kilometer umfasst. 29 Aussichtstürme und 22 Wanderheime entstanden auf der Alb und im weiteren Umland.

Die seinerzeit atemberaubende Erfindung der Eisenbahn trug einen Gutteil zur Entwicklung des Tourismus als bedeutenden Faktor in Geschäfts- und Gesellschaftsleben bei. 1892 fuhr der ers­te Zug von Reutlingen nach Honau. Schon ein Jahr später wurde die Strecke über Kleinengstingen nach Münsingen verlängert. 1901 folgten dann noch Teilstücke nach Schelklingen und Gammertingen. Noch als im Zuge der Weltwirtschaftskrise Ende der Zwanziger-Jahre vor Pfullingens Toren die Papierfabrik schloss, kämpfte die Stadt, leider vergeb­lich, um den Erhalt der auch touristisch so wichtigen Haltestelle vor jener Konkursfabrik.

Selbst in der Zeit des Wirtschaftswunders, als VW Käfer in Heeresstärke über den Brenner ins Land der Fiat 500 rollten, blieb die Alb nicht abseits liegen. Die Stadt Pfullingen warb bereits ab 1954 wieder mit Farbprospekten für ihre schöne Umgebung (Foto oben). Die allsonntäglichen Autostaus in den Tälern von Erms und Echaz waren legendär. In halblangen Cordhosen und karierten Hemden, oft gekrönt von Tirolerhüten, zog der Städter über die Albhochfläche.

In unseren Tagen ist das Image des Wanderns zum Glück entstaubt. Die Freiheit, die wir gewannen, in über sechs Jahrzehnten, seit unser Herr zum Lichtenstein radelte, erlaubt es uns, fast grenzenlos in die entferntesten Winkel der Erde zu streifen. Sollten wir aber deshalb die Schönheit der Alb vergessen, die unseren Herrn ein Leben lang faszinierte? Nein, im Gegenteil, das Biosphärengebiet, als von der UNESCO ausgezeichneter Modell-Lebensraum, schärft den Blick für die Heimat, für erhabene Stille in den Kernzonen, für die Tierwelt und die zahlreichen Spuren urzeitlicher Bewohner.

Reisebeschreibungen: Früher Tourismus auf der Alb

Die Wahrnehmung und das Reiseverhalten der Menschen wandelt sich. Die Schönheit der Alb, vom jungen Dichter Hauff erstmals in hohen Tönen besungen, ist zeitlos. Schon früh bereisten viele Literaten unsere Schwäbische Alb und haben mit ihren publizierten Beschreibungen ein scharfes Bild über die Landschaft und das Leben hier oben mit Worten skizziert.

Sphäre hat für Sie interessante Veröffentlichungen zusammengestellt.

  1. „Lichtenstein“ von Wilhelm Hauff, Reclam Verlag, ISBN 978-3-15-000085-4
  2. „Wanderung durch Schwaben“ von Gustav Schwab, Bleicher Verlag, ISBN 3-88350-335-5
  3. „Eine Albreise im Jahre 1790″ von Friedrich A. Köhler, ISBN 3-89151-001-2, nicht im Buchhandel, aber auf Amazon.de
  4. „Romantische Reise durch das alte Deutschland“, Lizenzausgabe des Verlages Rolf Müller Hamburg 1969, ohne ISBN, ebenfalls auf Amazon.de

——————————————————-

PDF-Download: Print-Artikel runterladenPDF-Download: Print-Artikel runterladen

Printausgabe: Sphäre 2/2011, Seite 16-17

WEBcode 173131

Die Kommentare sind geschlossen.