Nationalparkportrait Böhmerwald

Nationalparkportrait: Böhmer Wald – Leben und Sterben

Der Tod als Teil des Lebens ist im Böhmerwald stets präsent. Nicht nur das Waldsterben und die tragischen Schicksale damals am Todesstreifen zwischen Ost und West begleiten den Wanderer auf Schritt und Tritt. Auch darf hier fressen und gefressen werden – Luchse, Wölfe und vereinzelt sogar Elche fanden in ihre angestammten Reviere zurück.

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Leben und Sterben

Der Tod als Teil des Lebens ist im Böhmerwald stets präsent. Nicht nur das Waldsterben und die tragischen Schicksale damals am Todesstreifen zwischen Ost und West begleiten den Wanderer auf Schritt und Tritt. Auch darf hier fressen und gefressen werden – Luchse, Wölfe und vereinzelt sogar Elche fanden in ihre angestammten Reviere zurück.

Leise knirscht der kristallkalte Schnee unter dem kantigen Profil der Wanderschuhe. Eine melancholische Stille senkt sich über den Grenzkamm des Böhmerwaldes. Es ist 17 Uhr, Januar. Mit dem letzten Licht, das zwischen den makaberen Skulpturen der Baumleichen am nebelkalten Horizont glüht, jauchzt der hohe durchdringende Weckruf der Waldohreule.

Leben und Sterben – die Jagd der Wildtiere beginnt. Auf unserer Winterwanderung von Fins­terau über die grüne Grenze in die Urwälder des Böhmerwaldes in Tschechien haben wir auf der verharschten Schneedecke nicht nur einmal die Spuren von Luchsen entdeckt. Von 1982 bis 1989 setzten die naturbewussten Tschechen in ihrem Teil des Böhmerwaldes 18 dieser stolzen Raubkatzen aus. 1996 schätzten Experten den Bestand ohne Jungtiere auf 70 bis 100 Luchse.

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Unter Strom: Menschen abgeriegelt hinterm Eisernen Vorhang.

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Unter Spannung: Wölfe wieder unterwegs in freier Natur.

In Bayern und Österreich hingegen überwiegt die Skepsis. Hysterie und der Griff zur Flinte halten die Population im südwestlichen Teil dieses faszinierenden Mittelgebirges in Schach. Hier konzentriert man sich auf kontrollierte Natur: Luchse, Bären und Wölfe hinter Stacheldraht. Tausende Besucher und hunderte Hobbyfotografen wie auch Semiprofis lauern bei Kälte bis in den Abend hinein. Im Tier-Freigelände des Nationalparkzentrums Lusen warten sie mit großen Teleobjektiven auf den goldenen Schuss. Bei aller Skepsis – dieses Schauspiel von simulierter wilder Natur besitzt in der Tat seinen Reiz.

Noch mehr aber begeistert ein eisiger Sonnenuntergang hinter den Nebelbänken im Donautal. Europas zweitgrößter Fluss prägte sowohl die Topografie des Bayerischen-Böhmerwalds im Südwesten, wie auch die Erhebungen und Täler des Biosphärengebietes Schwäbische Alb. Nur rund 350 Kilometer flaches Land liegen zwischen diesen beiden Naturräumen und dennoch trennen sie Welten. So erwacht auf der Alb soeben erst das Bewusstsein, in einem schützenswerten Lebensraum zu wohnen. Die UNESCO zertifizierte das junge Biosphärengebiet Schwäbische Alb Anfang 2009. Der deutsche Teil des Böhmerwaldes (Bayerischer Wald genannt) hingegen entwickelt sich schon seit 1970 unter hohem Schutzstatus als erster Nationalpark der Republik. Das eigentliche Juwel für Liebhaber uriger Landschaften und wilder Tiere aber beginnt jenseits des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“ (Foto Seite 29, rechts oben). Bereits 1936 wurde Tschechiens „Landschaftsschutzgebiet Šumava“ mit einer Größe von 97970 Hektar als erstes großflächiges Schutzgebiet im Böhmerwald etabliert, seit 1990 sogar als UNESCO-Biosphärenreservat zertifiziert.

Während andernorts Sessellifte und Skiautobahnen Besuchermassen durch wilde Landschaften dirigieren, herrscht im Böhmerwald stiller Genuss. Gerade auf Tschechiens Seite lädt ein riesiges Loipen- und Winterwandernetz den Urlauber zu ausgedehnte Touren ein. Und dennoch: Irgendwie fühlt man sich mit der grandiosen Natur allein und klein.

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Winterfreuden: Ein kleiner Skilift, ein großes Loipennetz und ein Infozentrum des Naturparks Šumava warten auf Besucher.

Das „grüne Dach Europas“ schlummert zwischen der jungen Donau bei Deggendorf und der Moldau im Nordosten, dessen Mächtigkeit von den Wurzelspitzen bis in die Wipfel stattlicher Tannen und Fichten erstrahlt. Während hierzulande – auch selbst in unzugänglichen Hanglagen die Forstwirtschaft rausholte, was es zu holen gab, durften vor allem in Tschechien die Bäume schon seit Jahrzehnten wachsen. 100-jährige Riesen sind dort keine Seltenheit. In Tschechien wird der Schutzstatus streng angewendet. Deshalb können Urlauber hinter den Grenzgipfeln Rachel, Lusen und Dreisesselberg für unsere Augen ungewöhnlich massige Baumstämme bestaunen. Ihre Kraft lässt erahnen, wie einst ein echter Urwald ausgesehen haben mag und vielleicht auch die Kernzonen der Biosphäre auf der Alb einmal aussehen werden.

Doch in den endlosen Weiten des Šumava versteckt sich nicht nur das bescheidene Leben kleiner ursprünglicher Dörfer wie Kvilda (Bild oben). Es lauert dort auch der Tod.

Sterben gehört zum Leben – auch bei einem Wald. Starr wie vom Klagen verkrampfte Finger ragen Baumleichen in die klare Nacht. Der Borkenkäfer leistet um die stolzen Berggipfel des Grenzkamms ganze Arbeit. Wer ist Schuld? Die Bayern meinen: Die Tschechen, weil sie konsequent Natur Natur sein lassen. 1991 wurden die wertvollsten Teile des Biosphärengebietes dort zum Nationalpark erklärt. Die ordnende Hand der Menschen bleibt seither draußen. Und der Borkenkäfer zieht ein unter die Rinde der gesunden Fichten. Aber eben dies gehört zum Leben, der Tod als Anpassung, auch an das erwärmte Klima. Von diesem Bewusstsein beseelt, erklären große Holztafeln den 300- bis 500-jährigen Lebensweg eines Waldes. In jedem Ende liegt ein Anfang – die Chance einer veränderten, neuen und gesunden Lebensgemeinschaft Wald. Und wenn das Ende einer von der Holzwirtschaft künstlich aufgeforsteten, nicht gerade stand­­ortgerechten Waldpopulation etwas spektakulärer von der Bühne des Lebens verschwindet, so wird es die Natur wieder richten.

Hilflos dagegen ist die Umwelt, wenn der Mensch Scharfrichter spielt. Das Leben und Sterben ideologischer Verblendung ist hier ebenfalls greifbar präsent. Nur wenige hundert Schritte nach der kleinen Grenzbrücke zwischen Finsterau und Kvilda holen den Wanderer das tragische Schicksal von Bewohnern und Flüchtlingen ein. Hier steht als Mahnmal ein Stück einst unter gefährliche Hochspannung gesetzter Stacheldraht. Der Eiserne Vorhang trennte Familien und Gedanken. Die Authentizität dieser Befestigungsanlage und die noch weit über die Hügel hin sichtbaren schnurgeraden Einschnitte für das Bollwerk im Böhmerwald macht betroffen und gleichzeitig leicht. Wie leicht kann der Wanderer heute seinen Marsch durch den kalten Schnee Richtung Osten fortsetzen. Hinein in eine Lebensart und in eine Natur, deren grundverschiedener Pulsschlag man an jeder Wegbiegung spürt und sieht. Wirtschaftskraft im Westen, Bescheidenheit im Osten.

Auch wer im Sommer über diese Wege im Biosphärenreservat wandert oder radelt, erlebt eine Welt, in der die Natur noch ein wenig mehr in Ordnung scheint. Im Gebiet liegen Gletscherseen, Moore und Hochmoore (Fotos rechts). Übernachtungsmöglichkeiten sind in der Vor- und Nachsaison ohne Vorbestellung zu finden.

Auch wir finden unseren Weg durch die Dämmerung an diesem kalten Januarabend. Der Schnee reflektiert das Mondlicht, wie eine Wand säumen die dunk­len Fichten den Weg zurück nach Finsterau.

Eine Woche später drückt sich wieder das kantige Profil der Wanderstiefel knirschend in verharschten Schnee. Diesmal aber versinkt die kalte Sonne am Horizont der Schwäbischen Alb – einem ebenso kargen und reizvollen Naturraum wie das Biosphärengebiet Böhmer Wald.


Übersichtskarte


Böhmerwald: Beispielhaft für Tourismus auf der Alb

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So schön kann Biosphäre sein. Der Böhmerwald macht Lust auf das, was es auf der Alb mal geben wird. Bewusstseinswandel aber bedarf einer professionellen Informationsstrategie. Infotafeln und Besucherzentren sind Vorort die augenfälligsten Zeugnisse touristischen Schaffens. Aber wie begeistere ich die Menschen aus der Ferne für die Alb? Die Antwort gibt der Böhmerwald. Der Urlauber wird motiviert und informiert. Beispielhaft professionelle Tourismusstrukturen im Internet und Vorort nehmen den Besucher bei der Hand. Wenige Klicks im Web genügen und man findet eine Karte, auf der alle Winterwanderwege und Loipen verzeichnet und auch tatsächlich gespurt sind. GPS-Wanderer können Touren downloaden. Die schönsten Wanderrouten gibt es gedruckt gratis in Gaststätten, Hotels oder am Campingplatz. Winterdienst für Wanderer ist dort Pflicht. Auf der Alb dagegen bleibt der Fußgänger bisweilen im Schnee stecken. Auch sucht man vergeblich ein verlässliches und auch ernsthaft publiziertes Loipennetz. Allerdings: Der Böhmerwald hat mehr als 40 Jahre Vorsprung. Die Alb muss ja das Rad nicht neu erfinden. Doch hinschauen lohnt schon auf dieses Mittelgebirge im Osten, bei dem die Menschen wie hier nach dem Motto leben: „Ein halbes Jahr Winter und ein halbes Jahr kalt – aber so schön, dass jeder hier gewesen sein will.“


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Printausgabe: Sphäre 3/2009, Seite 28-31

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