Hochzeit feiern

Tradition & Handwerk: Wenn Fensterbauer 300-mal täglich Hochzeit feiern

Fenster holen das Draußen rein – die Sonne, das Panorama, die Farben der Jahreszeit. Früher erhellten nur kleine Maueröffnungen den Raum, dafür war man mehr draußen.

Wer heiratet, besiegelt den einmaligen Bund fürs Leben. Ein Fensterbauer allerdings feiert pausenlos Hochzeit – bis zu 300-mal täglich. Schreinermeister Helmut Kehm löst das Paradoxon auf: Wenn Fensterrahmen und -Flügel wie im Foto unten vereint werden, spricht seine Gilde von Hochzeit. Fortan sind die Früchte einer alten Handwerks­tradition auf ewig vereint.

Hochzeit feiern: heißt das Zusammenfügen von Fensterflügel und Rahmen.

Damit dieser Bund fürs Häusleleben nicht durch Qualitätsmängel frühzeitig die Scheidung sucht, setzt Kehms Arbeitgeber „Kneer Südfenster“ mit Sitz in Wes­terheim auf maximale Rohstoff- und Verarbeitungsqualität. Diese Firma schreibt Fenstergeschichte. Hat sie doch die technische Entwicklung vom einfach verglasten Bauernfenster hin zu mit Argongas gefüllten, zum Teil über 100 Kilogramm schweren Dreifachglas-Panoramascheiben nicht nur begleitet, sondern geprägt. Der damals 24-jährige Alois Kneer gründete 1932 eine Bau- und Möbelschreinerei in seinem 18 Quadratmeter kleinen Zimmer im Elternhaus. Eine Zimmertür inklusive Einbau kostete seinerzeit 17 Mark, ein Doppelfenster 15 Mark. Um der Kälte der harten Albwinter zu trotzen, hängten die Bauern ab Herbst für die nächsten sechs Monate vorübergehend zusätzlich Vorfenster in die Maueröffnungen. Das zwischen den beiden Fenstern großzügige Luftpolster dämmte schon recht ordentlich.

Kneers Betrieb florierte. 1936 zog die Firma in eine richtige Werkstatt um. Nach dem Krieg kurbelte die freie Marktwirtschaft den Häuslebau mächtig an. Ab 1958 konzentrierte sich Kneer ausschließlich auf den Fensterbau. Heute beschäftigt die Firmengruppe Kneer-Südfens­ter rund 700 Mitarbeiter in drei Werken. Täglich verlassen etwa 1600 Fenster und 50 Haustüren die Produktionsstätten. Und trotzdem: Es gibt immer noch Werkstattbereiche, da wird von Hand gehobelt und geschliffen – wie früher (historisches Foto ganz unten).

So unterschiedlich wie Hochzeitspaare überhaupt sein können, fordern heute die Gestaltungs- und Kundenwünsche die Flexibilität des Fensterbauers maximal. Rund, klein, groß, mehrteilig oder am Stück. Klassisch mit Holzrahmen, preiswert in Kunststoffausführung oder hochwertig in Holz-Aluminium für die kühle Ästhetik von Geschäftsgebäuden mit thermisch getrenntem Aluminium, das ebenfalls höchste Wärmedämmung verspricht. Bald jedes Fenster verlässt als Einzelanfertigung das Werk in Westerheim. Auf Lager wird nichts produziert. „Kommt eine besonders aufwendige Bestellung mit optischen und technischen Extradetails, sitzt der Kunde meist in Russland”, erzählt Kehm, während er auf ein teures Rundbogenfenster zeigt. „Schon alleine für die Herstellung der Radien benötigen wir fast so lange wie für ein ganzes Standardfenster.” Jedes Land, jede Kultur pflegt seine Vorlieben. Der Globus kennt keine Grenzen, folgerichtig muss, wer auf dem Weltmarkt mitspielen will, grenzenlos vielfältige Fenster und Türen bieten.

Freilich dominieren CNC-gesteuerte Anlagen das Tagesgeschäft. Doch immer noch liegen in Westerheim auf den Werkbänken der Kollegen Hammer, Säge, Schraubendreher und Zollstock griffbereit. Moderne Fenster holen großzügig das Draußen rein, während sie Kälte oder Hitze effektiv aussperren. Wer früher tagsüber viel an der frischen Luft arbeitete, kuschelte sich des abends ein in seiner kleinen wohligen Stube – genug geschaut, Vorhang zu, das Fenster spielte auf dem Land eine untergeordnete Rolle. Heute dagegen verschanzt sich die Arbeitswelt hinter Industriemauern oder in vollklimatisierten Großraumbüros mit Aussicht auf Stellwände. Die Sehnsucht nach authentischen Naturbildern, Gerüchen, Wolkenspielen müssen dann stündliche Wetterberichte imitieren oder Panoramafenster hinter vollverglasten Wintergärten holen das Draußen ins Haus. Wer sich dies nicht leisten kann, muss sich mit der Welt des Flachbildschirms begnügen – dem künstlichen Fenster zur Welt.

Da sich das Leben im späten Mittelalter vor der Tür mit dem Lauf der Sonne synchronisierte, dienten Maueröffnungen vorrangig der Belüftung, sie spendeten etwas fahles Licht. Waren sie doch mit gegerbter und geölter Tierhaut oder Leinen gegen Zugluft verschlossen. Erst 1904 konnten Scheiben nahezu in beliebige Dimensionen gezogen werden. Flachscheiben der Antike waren auf einer Seite stets rau und trüb, da flüssiges Glas in Sandformen gegossen wurde. Im Mittelalter schleuderte man flüssige Glaskugeln. Bis zu 1,2 Meter durchmessende, kreisrunde Scheiben entstanden.

Die im Althochdeutschen Augentor genannten Maueröffnungen entwickelten sich erst spät zu einem eigenständigen Geschäft. In den 1950er-Jahren entstand der Fens­terbau aus dem Tischler- und Glaserhandwerk. Kurios: Bis 1926 erhob Frankreich eine Tür- und Fenstersteuer und ließ so seine Bürger im Dunkeln hocken.

Wie vor 100 Jahren: Im Fensterbauhandwerk hat sich wenig geändert. Die Scheiben wurden dicker, die Rahmenprofile mächtiger. Täglich verlassen etwa 1600 Fenster und 50 Haustüren die Produktionsstätten von Kneer Südfenster. Und trotzdem: Es gibt immer noch Werkstattbereiche, da wird von Hand gehobelt, gedrechselt, geschliffen – wie früher.

 


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Printausgabe: Sphäre 3/2018, Seite 06-07

WEBcode #22317

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