Lauf der Zeit

Tradition & Handwerk: Schuhmacher sind rar – zur Pein geplagter Füße

Ein Schuster bleibt gern bei seinen Leisten – so er darf. Die Dettinger Familie Beck durfte. Sie trotzt dem Niedergang dieses Berufsstandes und feiert 100-jähriges Jubiläum.

Wie vor 100 Jahren: Im Schuhhandwerk hat sich zur Museumswerkstatt im Freilichtmuseum Neuhausen ob Eck wenig verändert (Foto oben). Außer dass es kaum mehr Schuster gibt. Generell hat es das Handwerk schwer. Die Handwerkskammer Reutlingen zählt rund 12000 Handwerksbetriebe. Aber nur zehn pro Jahr ist das 100er-Jubiläum vergönnt.

Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh’“ – dieses lustige Kinderlied ist fast so alt, wie die Familie Beck in Dettingen Erms Schuhe anfertigt, repariert und heute mit modernster Computertechnik millimetergenau orthopädisch exakt dem Fuß anpasst. Vor genau 100 Jahren begann Opa Georg Beck Schuhleder über den hölzernen Leisten zu ziehen, abgelatschte Galoschen neu zu besohlen, den Schaft mit seinem rotierenden Bürs­tensortiment auf Hochglanz zu polieren.

Sohn Hans übernahm das Geschäft in der Nachkriegszeit. Das Werkzeug und die Arbeit hatten sich kaum verändert: Hammer, Zangen, Messer und das dreibeinige Schuhmachereisen. Selbst Enkel Ernst Beck arbeitet heute mit dem Werkzeug von damals. Er hat es lediglich durch rationeller arbeitende Maschinen ergänzt.

Vor der Industrialisierung gab´s nur handgefertigte Schuhe. Ab 1870 entstanden Fabriken. Salamander und Co. hielten die Arbeit im Land. In der Hochburg Pirmasens beschäftigten 1970 noch 300 Firmen 22000 sogenannte Fabrikschuster. Schon zehn Jahre später machten die Hälfte der Fabriken dicht. Heute geben dort nur rund 30 Firmen etwa 1200 Menschen Arbeit. An der Alb gilt ein Schumacher als Rarität. Billigschuhe aus China machten aus einem einst hochgeschätzten und langjährig gepflegten Unikat ein kurzlebiges Wegwerfprodukt.

„Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh’ und sehet den fleißigen Waschfrauen zu.“ Von wegen pflegen und hegen. Nicht nur das Schuhwerk heute und dessen durch Modeströmungen abartig pervertierte Funktionalität macht der Gesundheit der Menschen zu schaffen, auch die Ignoranz, die Füße ins Unsichtbare unter die Gürtellinie zu verbannen, gilt als Ursache für eine Reihe von Volkskrankheiten. Beispiel Gelenkarthrosen und Rückenschmerz. High Heels lassen Fußmuskeln verkümmern, spitz zulaufende Modetreter deformieren Zehen und Fußgewölbe. Die gesamte Statik des Körpers gerät in Schieflage, besonders wenn auch noch Übergewicht die Gehwerkzeuge erdrückt. Denn: Ein schlapper Büroalltag ist wenig geeignet, um die 28 Knochen, 20 Muskeln und 114 Bänder eines Fußes zu trainieren. Die Ferse trägt die Hauptlast des Gewichtes, doch Fettlagen als Polster bilden sich nur, wenn man geht und nicht nur sitzt. Fußsohlen verfügen über mehr Sinneszellen als unser Gesicht. „Die hochspezialisierten Muskeln und Sehnen können nur arbeiten, wenn wir sie nicht in anatomisch unsinnige Gerätschaften zwängen“, warnt Ernst Beck, der heute als Fachmann für orthopädisch individualisierte Schuhproduktion einen guten Ruf genießt.

Hightech-Schuh: Computer helfen Ernst Beck beim Vermessen der Füße.

Auf seiner Vermessungsbühne (Foto oben) analysiert er per Scanner die Sohlen, prüft in Spiegeln die Statik der Beine, ja die gesamte Haltung des Fortbewegungssystems Mensch. Schnell erkennt er, wo der Schuh drückt. Manchmal helfen individuell angefertigte Sohlen oder Tipps für revitalisierende Zehen- und Beingymnastik. „Würden doch die Menschen mehr wandern, joggen oder walken“, klagt er. „Bestimmt hätte ich in der Werkstatt weniger zu tun“, grinst der 69-jährige Springinsfeld und fügt hinzu: „Mich und meine Füße hält der regelmäßige Walk Richtung Sonnenfels bis heute jung.“

Seit Becks Meisterprüfung 1976 hat sich die Welt ziemlich verändert. Noch schnellere Autos, noch mehr Büro-Jobs. Handy und Internet fesseln Jugendliche an den Stuhl. Doch die Evolution hat unsere Füße auf Bewegung programmiert. Zu Familie Becks Gründerzeit vor 100 Jahren waren Kinder barfuß und bisweilen auch Erwachsene ohne Schuhe unterwegs. „Ja, barfuß“, sinniert Beck. „Den Fuß durchziehen viele Gefäße und Nerven, die unzählige Reize empfangen.“ Gleichgewicht, Bodenbeschaffenheit, Temperatur – der Fuß führt heute dieser Sinneseindrücke beraubt ein düsteres Leben im Dunkel. Kein Mensch käme auf die Idee, für immer die Augen zu verbinden oder auf Dauer dicke Fäustling-Handschuhe zu tragen. Die Füße aber sehen so gar nichts von der Welt.
Becks Plädoyer für den guten Schuh hat schon viele Kunden zum Besseren bekehrt. Besonders gelehrsam seien Läufer, zum Beispiel jene des Ermstal-Marathon im Juli jeden Jahres. Viel Platz für die Zehen sei wichtig: einen fingerbreit. Ein Alltagsschuh sollte von Anfang an passen. Einlaufen wie es bei alten Wanderschuhen üblich war, ist passé. „Die Materialien heute sind anpassungsfähiger als störrisches Leder, die Sohlen flexibler.“

„Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh’“, Orthopädiemeister Beck formuliert diesen Liederreim fast täglich, um die Lebensqualität seiner Kunden zu steigern. Er weiß, dass sich heute kaum jemand einen handmade Schuh leistet, für den ein Schuhmachermeister 30 bis 40 Stunden braucht. Doch beobachtet er einen Trend: Immer mehr Menschen achten auf gehobene Qualität. „Das lohnt“, bestätigt der Dettinger Traditionsbetrieb „Körperhaus-Ermstal“ mit satten 100 Jahren Erfahrung.

Echte Handarbeit: Auf den Fuß ganz individuell angepasste Schuhe waren früher Standard, heute Luxus.

 


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Printausgabe: Sphäre 2/2018, Seite 06-07

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