Winter-Naturporträt: Wasserland

Winterporträt: Wasserlandschaft Naturpark Friauler Dolomiten bis zur Adria

Nur knapp 90 Kilometer liegen zwischen dem Lago di Bàrcis, am südlichen abrupten Ende der Alpen, und dem herrlichen Sonnenaufgang am kalten Adriastrand (Foto links). Dazwischen schimmert eine endlos silbrige Ebene im Winterdunst. Die riesige aus den Bergen herausgeschwemmte Geröllscholle liegt im Schnitt nur 25 Meter über dem Meer und flacht zur Küste hin ab. Die friulanische Tiefebene schwimmt quasi auf Grundwasser, einem unterirdischen „Süßwassermeer“ direkt vor der salzigen Adria.

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Schneereste glänzen in der Februarsonne an der seichten Flussmündung in den Lago di Bàrcis. Im Sommer ist dieser Stausee bei Touristen heißbegehrt, im Winter ein einsames, aber um so schöneres Fotomotiv.

Wasserland

Nur knapp 90 Kilometer liegen zwischen dem Lago di Bàrcis, am südlichen abrupten Ende der Alpen, und dem herrlichen Sonnenaufgang am kalten Adriastrand (Foto links). Dazwischen schimmert eine endlos silbrige Ebene im Winterdunst. Die riesige aus den Bergen herausgeschwemmte Geröllscholle liegt im Schnitt nur 25 Meter über dem Meer und flacht zur Küste hin ab. Die friulanische Tiefebene schwimmt quasi auf Grundwasser, einem unterirdischen „Süßwassermeer“ direkt vor der salzigen Adria.

Adriaküste im Winter: Ein seltsames Gefühl beschleicht den in der Morgenkühle einsamen Wanderer. Denn eigentlich kennt man diese Küstenlinie als von Sonnen­anbetern gepflasterten Strand. Die Luft ist feucht, aber keineswegs bitterkalt.

Gib Künstlern einen Klumpen Ton. Sie werden ihn modellieren zu einer ausdrucksstarken Skulptur. Gib Wasser einen gewaltigen Brocken Gestein wie die Alpen. Es wird ihn schürfen und schleifen zu einer für unsere Augen ergreifenden Gebirgslandschaft.

Bisweilen allerdings pokern Menschen mit dieser Schaffenskraft der Flüsse und verlieren dieses Spiel. Den Einsatz für solch eine Risikopartie, dem Bau des Vajont-Stausees im italienischen Naturpark Friauler Dolomiten, allerdings bezahlten nicht die Kraftwerksbetreiber, sondern 1917 Bewohner des Städtchens Longarone mit ihrem Leben. Es war ein Mittwoch, 22:39 Uhr als am 9. Oktober 1963 ein zwei Kilometer langer Hang in den künstlichen See rutschte. Eine Flutwelle schwappte über die Staumauer hinunter in die Stadt. Sie spülte die Schlafenden fort, samt ihrer Häuser. Der zurückgestaute Vajont hatte die Festigkeit des Berges aufgeweicht. Etwa 125 Millionen Kubikmeter Wasser schossen auch das Tal hinauf, fünf Sechstel des Stauvolumens. Die riesige Flutwelle verfehlte nur knapp das über dem See liegende Dörfchen Erto (im Foto unten rechts am Hang). Seine historischen Gassen und teils zerfallenen Gebäude veranschaulichen als Zeitfenster ein Gefühl vom harten Bergleben vergangener Tage.

Unglückstal: Das Dorf Erto rechts, oberhalb des ehemaligen Vajont-Stausees hält Erinnerungen wach.

Das Unglück verschonte die Staumauer (siehe Kasten unten). Die verwaiste Bauruine klemmt noch heute als 260 Meter hohes Mahnmal in der Felsenge der Schlucht des Vajont. Weniger monströs hält ein nur 50 Meter hoher Betonriegel das Wasser des Lago di Bàrcis zurück. Er liegt nur 23 Kilometer vom Katastrophenort entfernt. Im Sommer genießen dort Touristen Sonne und Ufer – oder sie schnüren die Wanderstiefel, um ein weiteres Wasserschauspiel zu bestaunen: den großen Canyon Valcellina, eine der spektakulärs­ten Schluchten Italiens mit Felsen, die schwindelerregend in den glasklaren Wildbach eintauchen. Eine historische, verkehrsfreie Straße erschließt für zahlende Besucher das Tal. Die Hängebrücke Ponte Tibetano sorgt bei mit Helm und Sicherungsseilen bewehrten Ausflüg­lern für etwas Aufregung und Abwechslung.

Im Winter und gerade zur Faschingszeit aber hat man diese traumhafte Bergwelt um Bàrcis für sich allein – ebenso die schier endlose Weite, die sich nach dem letzten schmalen Gebirgsrücken der Alpen majestätisch als flacher halbkreisförmiger Horizont zur Adria verneigt (Foto unten). Einzig drei bis zu 1,5 Kilometer breite Flussbette zerteilen die friulanische Tiefebene (siehe Karte rechts). Der Torrente Cellina, der sein Wasser unter dem trockenen Schotterbett führt, wird trotz seiner hier optischen Mächtigkeit noch vom Tagliamento überflügelt. Er gilt wegen seines vollkommen natürlichen Verlaufs als einer der letzten Wildflüsse Europas. In dem noch intakten Ökosystem leben überdurchschnittlich viele Tier- und Pflanzenarten. 32 Fischarten tummeln sich hier, fast doppelt so viel wie in vergleichbaren europäischen Gewässern. Da fühlt sich nicht nur der Eisvogel wohl, sogar Gänsegeier kreisen im Aufwind, getragen von ihrer zwei Meter langen Flügelspannweite.

Torrente Cellina – kein Wasser, nur faustgroßer Kies. Nach dem letzten Alpen-Gebirgszug führt der Pfad (links im Bild) hinab nach Maniago.

Die meisten Urlauber allerdings rauschen an diesem Schauspiel vorbei Richtung Teutonengrill zwischen Bibione und Venedig. Sie ahnen nicht, welches Kleinod sich jenseits der Autobahnleitplanken verbirgt. Auch wissen sie nichts von den historischen Zentren der Bilderbuchstädte dieser Ebene wie Maniago, Spilimbergo oder Pordenone. Doch so wie Kunst sich nur langsam und nach Mühen einem Interessierten erschließt, offenbart auch das Wasserland und besonders der Tagliamento seine gestalterische Virtuosität nur dem aufmerksamen Betrachter.

Lago di Tramonti: Gehöft aus der Tiefe wieder aufgetaucht.


 

Übersichtskarte

 


 

Katastrophe: 2000 Bewohner im Schlaf getötet

Am 9. Oktober 1963 stürzte der vom Stauwasser aufgeweichte Berg auf zwei Kilometer Länge in den Vajont-See. 270 Millionen Kubikmeter Gestein füllten das Staubecken (das doppelte Stauvolumen) und verdrängten das Wasser in einer Flutwelle. Sie verfehlte nur knapp die am Hang liegenden Dörfer Erto und Casso. 25 Millionen Kubikmeter Wasser strömten über die Staumauer talabwärts und töteten fast alle 2000 Einwohner der Stadt Longarone. Seither ist der Stausee abgelassen. Ein Besucherzentrum in Erto dokumentiert die Katastrophe.

Spiel mit den Naturgewalten:
Die mächtigen Erdmassen des Bergsturzes hinter der Vajont-Staumauer (Bild) pressten das gesamte Seewasser talaufwärts und über die Mauer ins Tal. Foto: BY-SA 3.0, Flodur44


 

Naturpark: Friulanische Dolomiten im Winter

Viel entdeckt, wer wandert oder radelt. Die Bergwelt liegt als Naturpark zu Füßen, das Schauspiel der Flüsse und Seen lässt sich ideal mit Rad und E-Bikes erkunden. Tipp: Den Cellina- oder Tagliamento-Fluss auf ganzer Länge mit dem Bike erfahren – von den Alpen bis zur Adria, vom Land in Dörfer und Städte. Routenvorschlag: furlancycling.com/cicloviafvg6.

Naturpark Friauler Dolomiten: 370 km2 (Biosphärengebiet Schwäb. Alb: 853 km2) / Höchster Gipfel: 2706 m (Cima dei Preti)

 


Spilimbergo: Mosaikstadt zwischen Wildflüssen

Gib im friulanischen Städtchen Spilimbergo einem Künstler bunte Steine. Er wird sie schleifen, formen und zu den weltberühmtesten Mosaiken fügen. Seit über 100 Jahren werden hier Schüler von überall aus der Welt zu Mosaik-Künstlern ausgebildet. Diese Schule ist weltweit die einzige, die Mosaik-Meister hervorbringt. Das Foto zeigt einen Industriekamin, verziert mit Mosaiken.

 


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Printausgabe: Sphäre 3/2023, Seite 30-33

WEBcode #23333

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