Naturporträt: Vinschgau – im Dreiländereck zwischen Reschensee und Ortler
Viel Sonne, wenig Wolken. Eines der strahlendsten Gebirgstäler liegt zentral in den Alpen – der Vinschgau. Ausdauernd lacht hier der Himmel, der Regen macht sich rar. Im Örtchen Kortsch gar übertreffen die Sonnenstunden selbst die für ihr gutes Wetter bekannten Hotspots wie Meran oder Riva am Gardasee. Auch lag hier eines der berühmtesten Kapitel der Menschheitsgeschichte im ewigen Eis begraben. Vor 5200 Jahren beendete ein hinterrücks abgeschossener Pfeil das entbehrungsreiche Leben eines einsamen Wanderers. 1991 wird dieser als Ötzi aus dem Eis in der ganzen Welt bekannt.
Sonnenland
Viel Sonne, wenig Wolken. Eines der strahlendsten Gebirgstäler liegt zentral in den Alpen – der Vinschgau. Ausdauernd lacht hier der Himmel, der Regen macht sich rar. Im Örtchen Kortsch gar übertreffen die Sonnenstunden selbst die für ihr gutes Wetter bekannten Hotspots wie Meran oder Riva am Gardasee. Auch lag hier eines der berühmtesten Kapitel der Menschheitsgeschichte im ewigen Eis begraben. Vor 5200 Jahren beendete ein hinterrücks abgeschossener Pfeil das entbehrungsreiche Leben eines einsamen Wanderers. 1991 wird dieser als Ötzi aus dem Eis in der ganzen Welt bekannt.
Warm war es vor 5200 Jahren im Vinschgau, deutlich wärmer als heute – trotz der aktuellen Klimakrise. Als Ötzi damals durch die Wälder Richtung dem 3188 Meter hoch gelegenen Tisenjoch streifte, lag zu jener warmen Periode die Baumgrenze in den Alpen und somit auch im Vinschgau um 200 bis 300 Meter höher. Gebirgsgletscher schmolzen. Zurück blieben ähnlich wie heute nur kümmerliche Eisreste.

Ortler – einer der 5150 Alpengletscher.
Diese wohltemperierte Epoche allerdings fand mit dem Tod dieses Wandersmanns ein jähes Ende. Es schneite und schneite. Schnell war der Leichnam gefrostet und somit bis zum Fund 1991 konserviert. Zu Zeiten Ötzis nämlich kehrte plötzlich Kälte ins Vinschgau zurück. Die mittlere Temperatur in der damaligen Kupfersteinzeit sank wieder. Sie rutsche zwar deutlicher tiefer als heute, jedoch nicht abgrundtief wie zur Weichsel-Würm-Kaltzeit vor 115000 bis 11600 Jahren, die selbst Norddeutschland bis Berlin vergletscherte. In den Alpen lugten nur die allerhöchsten Gipfel aus dem Eispanzer heraus.
Dieser Temperatursenke vor rund 5000 Jahren und der Erwärmung heute verdankt Ötzi seine Wiedergeburt als eine der ältesten natürlichen menschlichen Mumien und einen gewissen Weltruhm nebst Platz in Bozen als Museumsattraktion. Zum Fundort hoch über dem wunderschönen, 22 Kilometer langen Schnalstal lockt ein Ötzi-Denkmal viele Wanderer zum Tisenjoch. Ötzi selbst in einer Kühlkammer mit Sichtfenster im Bozener Archäologiemuseum verwahrt, avanciert zum Publikumsliebling. Alleine im Jahr 2022 pilgerten eine Viertelmillion Besucher zu ihm in die Hauptstadt Südtirols.
Doch die Bekanntheit dieses Urmenschen aus dem Eis wird vom Vinschgau keineswegs augenfällig oder gar aufdringlich vermarktet. Das Alpenland zwischen Reschensee und Ortler wirkt ruhig, es kehrt nach wie vor seine kulturlandschaftlichen Besonderheiten heraus, allerdings sind diese oft gerahmt von allgegenwärtiger Schaffenskraft von Mensch und Natur.
Den Reschensee im Blick: Die 3029 Meter hoch gelegene Payerhütte unterhalb des Ortlers serviert die Schönheit der Vinschgauer Bergwelt wie auf einem Silbertablett. Die Etsch grub ab hier eine fruchtbare und sonnige Talschneise durch dieses hohe Felsenland.
Mensch gegen Natur? Zwei Spieler prägen hier konträr jeweils eine Seite derselben Medaille: So erfreut das groteske Bild des Alt-Grauner Kirchturms im Wasser des Reschensee einerseits die Touristen, andererseits erinnert dieses tausendfach fotografierte Motiv die Einheimischen daran, dass der Staat wegen des 1950 aufgestauten Sees zur Stromerzeugung 100 Familien zwangsenteignete sowie deren 163 Gebäude sprengte.
Reschensee – Sommerfrische auf 1498 Metern.
Ähnlich ambivalent überstrahlt das herrliche hellrosa der Apfelblüten ab Ostern und der süße Duft der reifen Früchte im Herbst den penetranten Geruch von Pestiziden. Einer deutsch-österreichischen Studie zufolge* konnten selbst in Gipfel- und Höhenlagen von 2300 Metern die Forscher noch Pestizide in Pflanzen und im Boden nachweisen. Selbst der freudige Fund Ötzis im Jahre 1991 lenkt den Blick auf eine in den Alpen augenfällige Schattenseite des globalen Energieverbrauchs. 1991 lag Ötzi am Fundort noch festgefroren im Eis. 33 Jahre später war auch dieses vollständig verschwunden, so wie auch den Ortler heute statt der einst mächtigen Eiskappe nur ein helles Kopftüchlein bedeckt.
Ganz ohne Schattenseite dagegen erfreut die jahrhundertealte für den Vinschgau typische Bewässerung über sogenannte Waale. Diese sind in den Hängen dieser niederschlagsarmen Region angelegte Gräben. Sie schöpfen den Wasserreichtum der Seitentäler ab. Noch heute werden Teile des einst 600 Kilometer langen Hauptwaalnetzes genutzt. Sie gelten als Touristenattraktion, weil die alten kurvigen Wartungspfade entlang dieser Kanäle ganz ohne Steigungen quasi anstrengungsfreien Wanderspaß und Ausblicke bieten.
Stilfs Dorf – abseits der beliebten Passstraße hoch zum Stilfser Joch.
Gletscherschmelze am Ortler: Den Radlern (und Autotouristen) auf dem Stilfser Joch (2758 m) blinzelt der 3905 Meter hohe Ortler vom Horizont herüber als Gebirgskopf mit schütterem, schlohweißem Haar.
Blick von der Payerhütte (3029 m) – im Rücken der Ortlersteig, tief unten das Suldental.
Übersichtskarte
Glurns: Stadt komplett hinter dicken Mauern
St. Martin – kleine Kapelle mit Blick auf Glurns im Tal.
Die kleinste Stadt Südtirols und einzige Stadt des Vinschgaus mit nur rund 900 Einwohnern liegt abseits der Autoreiseroute Reschenpass nach Meran tief unten im Etschtal. Daher finden dieses Juwel nur jene, die gezielt nach ihm suchen, weil sie schon von dieser gemütlichen, historischen Altstadt gehört haben, von deren mittelalterlichen Laubengassen, Stadttürmen und Toren geschützt von einer vollständig erhaltenen Wehrmauer. Den zahlreichen Radtouristen der Traumroute Reschensee nach Bozen drängt die Schönheit Glurns förmlich einen Pausenstopp auf.
Ötzi: 5200 Jahre lang hoch im Eis begraben
Der Fundort Tisenjoch (3208 m) war bis vor etwa 6000 Jahren eisfrei. Unklar ist, ob Ötzi auf Eis starb oder auf Fels. Und ob ihn das Eis erst später im Zuge der allgemeinen Abkühlung bedeckte. Das Alter des Eises, in dem Ötzi eingeschlossen war, wurde nie datiert; inzwischen ist es abgeschmolzen.
Am Fundtag, den 19. September 1991 am Tisenjoch ragte Ötzis Oberkörper aus dem Eis ragt.
Waalwege: Beliebteste Wanderpfade Südtirols
Gemächlich plätschert das Wasser im Ackerwaal hinunter ins auf 1600 Meter hohe Gebirgsdörflein Matsch. Diese im Vinschgau typische Technik zur Wiesenbewässerung listet die UNESCO seit 2018 als „Immaterielles Kulturerbe der Menschheit“. Die zahlreichen alten Wartungspfade werden heute oft als Wanderrouten weiterhin gepflegt.
* Studie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau und der Universität für Bodenkultur in Wien
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Printausgabe: Sphäre 2/2024, Seite 30-33
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