Herrschaftszeit

Naturporträt: Zeitreise zur Hauptstadt des einst kleinsten Staates Europas

Einer der kleinsten unabhängigen Staaten des neuzeitlichen Europas versteckt sich in den Vogesen. Mit 2334 Einwohnern war das französische Senones die Hauptstadt eines ehemaligen Zwergenstaates. Diese Gemeinde, kaum größer als ein Albdorf, aber steckt voller Überraschungen: Mondäne Verwaltungsgebäude, ein Schloss, eine Parkanlage – vieles wie echte Antiquitäten verwunschen angestaubt.
Aus der Mitte herauf ragt stolz der massige Glockenturm eines ehemaligen Klosters – gerahmt vom herbstlichen Rotgrün der umliegenden Höhenzüge, die einsame Wanderrouten oder Bike-Strecken erschließen.

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Château des Princes de Salm: Die heute 2300-Seelen-Gemeinde Senones war von 1751 bis 1793 Hauptstadt eines unabhängigen Staates: das Fürstentum Salm-Salm.


 

Herrschaftszeiten

Einer der kleinsten unabhängigen Staaten des neuzeitlichen Europas versteckt sich in den Vogesen. Mit 2334 Einwohnern war das französische Senones die Hauptstadt eines ehemaligen Zwergenstaates. Diese Gemeinde, kaum größer als ein Albdorf, aber steckt voller Überraschungen: Mondäne Verwaltungsgebäude, ein Schloss, eine Parkanlage – vieles wie echte Antiquitäten verwunschen angestaubt. Aus der Mitte herauf ragt stolz der massige Glockenturm eines ehemaligen Klosters – gerahmt vom herbstlichen Rotgrün der umliegenden Höhenzüge, die einsame Wanderrouten oder Bike-Strecken erschließen.

Statt historischer Bauernhäuser, Scheunen und Ställe wie in kleinen Ortschaften auf der Schwäbischen Alb üblich, prahlt in dieser besonderen 2300-Seelen-Gemeinde im elsässischen Nirgendwo unerwartet ein massiger, goldgelber Glockenturm.

Senones: Die Benediktiner-Abtei besteht seit 640 neuer Zeitrechnung, der Kirchturm seit dem 12. Jahrhundert.

Nur wenige 100 Meter von diesem Kirchenmonument entfernt glühen im Herbstlicht sogar orangerote Sandsteinwände eines richtigen Palastes. Auf dem Weg dahin reihen sich fürstliche Wohn- und Verwaltungshäuser, teils verfallen mit Brettern vernagelt vor Fenstern und Türen, teils liebevoll renoviert und bewohnt.

Alte Residenz: Viele Häuser, wenig Leute.

Senones heißt das verwunschene Örtchen in den Vogesen. Den ungewöhnlichen Prunk und Gloria verdankt die Gemeinde einer verheißungsvollen Zeit, in der sie sich von 1751 bis 1793 Hauptstadt nennen durfte. Residenz, Regierungssitz, Amtssitz eines unabhängigen Staates: das Fürstentum Salm-Salm. Dieses Örtchen war mit all seinen staatstragenden Ämtern umschlossen vom großen Frankreich. Als kleine Exklave des Heiligen Römischen Reichs waren ihm einige Jahre herrschaftliche Existenz vergönnt. Es verlor nach der Französischen Revolution seine Eigenständigkeit und wurde von Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg zertrümmert.
Doch dieses Kleinod lebt heute weiter, mit verblassendem Glanz wie eben eine echte Antiquität seine Liebhaber nicht mit steriler Ästhetik des Neuen betört, sondern mit den Narben und Wunden aus der Geschichte vieler Generationen.
Hinter dem Glockenturm, das einzige Original der ehemaligen Abteikirche des Antonius von Padua aus dem 12. Jahrhundert, duckt sich eine alte Parkanlage, welkes Laub bedeckt den Boden unter einer 100-jährigen Buche. Was könnte sie besser vom fürstlichen Leben erzählen, von den Bauern und Handwerksleuten als die alten Geschichtsschreiber, die sich in ihren Chroniken nur mit Namen, Titeln und Jahreszahlen mühen, eine Epoche der Nachwelt zu beschreiben.
Doch nicht nur die alte Buche im Residenzpark könnte erzählen, sondern auch Baumriesen versteckt in den goldrot getünchten Mischwäldern und die vielen sandig, rostroten Bachläufe. Denn ihr Wasser modellierte diesen aus weichem Sandstein dem Urmeer enthobenen Gebirgskörper so verspielt und kurvenreich, sodass auf Wanderer und Radler hinter jeder Biegung auf kleinstem Raum stets neue Landschaftsbilder warten.

Wanderparadies: Von schmalen Pfaden herab gibt der Wald den Blick auf das Vallée du Rabodeau und Senones frei.

Wie in den Vogesen üblich heißt Wandern nicht marschieren auf breiten Forststraßen, sondern genießen entlang schmaler, an den Hang geschmiegter Fußpfade. Ebenso bedeutet für Franzosen hier in den Vogesen ein Radweg nicht ein der Autostraße abgetrotzter Streifen Asphalt, sondern separate Strecken, die die Landschaft und deren Ruhe für schmale Reifen erschließen. Die beiden Täler des alten Fürs­tentums lassen sich zu einer Traumrunde zusammenfügen: Das Vallée du Rabodeau hinab (Foto oben) und das Vallée du la Plaine wieder hinauf. Wobei gleich zwei Stauseen als lohnendes Zwischenziel diese Strecke säumen, der Lac de la Plaine (Foto Seite 30) und der Lac de Pierre-Percée, dessen Wasser sich malerisch wie Spitzen eines Ahornblattes in kleine Seitentäler hi­neindrückt.

Badeparadies im Sommer, im Herbst herrliche Ruhe: Nur ein Tal weiter liegt das Örtchen Celles-sur Plaine oberhalb eines idyllischen Stausees (Lac de la Plaine). Das Örtchen samt dem Flüsschen Plaine, das den Stausee speist, markierte vor 400 Jahren die nördliche Grenze des Kleinstaates: das Salm-Salm Fürstentum. Ein asphaltierter Traum an Radweg folgt den engen Schleifen des Wasserlaufs.

Extensive Landwirtschaft: Im alten Fürstentum dürfen Bulle, Kuh und Kalb noch gemeinsam großflächig weiden.

Herbstzeit gleich Pilzzeit: Wo viel Licht ist, wirft die Sonne harte Schatten.


 

Übersichtskarte

 

 

Saint-Dié-des-Vosges: Am Reißbrett geplant

Rue Thiers: Eigenartig schön wirkt diese völlig zerstörte und nun neue Stadt.

Grausam, ohne Sinn und Verstand wüteten die Schergen des NS-Regimes in den Vogesen und besonders in dieser vom alten Fürstentum nur wenige Kilometer entfernten Stadt. Gegen Kriegsende im November 1944 zogen sich deutsche Soldaten zurück. Doch statt einfach abzuziehen, nahmen sie mit, was ging. Sie plünderten und leisteten ganze Arbeit, die Doktrin der verbrannten Erde perfekt zu erfüllen. Die Stadt war vollständig zerstört, Franzosen zur Zwangsarbeit verschleppt.
Viele Jahre noch lebten die verbliebenen Einwohner in Baracken und Slums an den Berghängen. Vor diesem Hintergrund ist die aus dem Nichts gestampfte Stadt fürwahr eine Sehenswürdigkeit, vielmehr aber ein Mahnmal, eingedenk der aktuellen Lage, wo wieder einige wenige über Leid und Schicksal von vielen verfügen.

Die neu gebaute Innenstadt wirkt aus einem Guss, die Gebäude ähneln sich, wie hier an der Rue Thiers (Foto oben). Der Freiheitsturm, eine begehbare Skulptur, ist der Französischen Revolution gewidmet (Foto unten).

Freiheitsturm: 32 Meter kunstvoll arrangierter Stahl.

 


 

Krieg: Immer nehmen, was einem nicht gehört

Tête du Coquin: Kriegsbeton statt Gipfelkreuz..

Die Berge von Senones haben die Deutschen mit Verteidigungsgebäuden gespickt, nachdem sie 1914 das Städtchen überfallen hatten. Auf dem 837 Meter hohen Aussichtsberg Tête du Coquin errichteten Soldaten eine Flugabwehranlage. Den ursprünglichen Felssporn haben sie vollständig verändert, um Schutz- und Artilleriebunker erweitert, gestützt mit Beton und Stahl. Nach vier Jahren Krieg waren von 4719 Einwohnern nur noch 320 übrig. An der Frontlinie hier verloren nicht nur viele Soldaten ihr Leben, sondern (wie immer) auch Zivilisten.

 

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Printausgabe: Sphäre 3/2025, Seite 30-33

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