Winnetou der Alb

Kultur & Geschichte: Karl May war ein Älbler

Die Biosphäre als Schauplatz für Weltliteratur und mitreißende Phantasiespiele.

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Die Schwäbische Alb und und ein Buch von Karl May sind zwei Dinge, die scheinbar überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Im Spätsommer 1898 aber weilte der Erfinder von Hadschi Halef Omar und Winnetou im Schatten der Alb. Wer sich mit den Arbeitsweisen Mays auseinandersetzt und die Alb kennt, kommt zum Schluss, dass der Blick zur felsigen Trauflandschaft nicht ohne Einfluss auf das Schaffen des Dichters war.

Karl May, dieser einzigartige Volksschriftsteller, besaß die Gabe, Landschaften trefflich zu schildern, die er niemals sah. Er war Fleißarbeiter, exotische Sprachen, Sitten, Kleider, Tiere, Pflanzen erlas er sich in Bibliotheken. So brachte er seine grandiose Phantasie zur Entfaltung. Wahrheit und Dichtung verschwammen. Nahe Wirklichkeiten wuchsen vor seinem geistigen Auge zu erhabenen Dimensionen in weiter Ferne. Der Träumer aus Sachsen schaute ins Elbsandsteingebirge und meinte, Winnetou durch die Rocky Mountains reiten zu sehen. In und um Dresden hat May lange gewohnt, die herrliche Umgebung war zumeist das Sprungbrett seiner Gedankenflüge.

Für einige Wochen aber scheint tatsächlich die Schwäbische Alb diese Rolle übernommen zu haben. Der 56-jährige Erfolgsautor schrieb seinem Verleger, er sei „an einen einsamen Orte geflohen, um ungestört an Band 25 – Am Jenseits – arbeiten zu können.“ Gemeint war die „Villa Weise“ in Kirchheim Teck.

In „Am Jenseits“, Seite 105, lesen wir: „Sonnendurchglüht, kahl und nackt ragen ihre Felsen empor, oft wunderlich, phantastisch geformt, oft kühn vereinzelt, oft zu gemeinschaftlichen wilden Zügen vereint; bald in seltsamen Gliederungen aufgebaut, dass man zerfallene Städte, verödete Schlösser oder Burgen oder prächtige Säulenhallen in der Ferne zu erblicken meint, bald wieder wie von der Faust eines unerbittlichen Schicksals zerschmettert, breitgedrückt, zerrissen und zerklüftet, von gähnenden Abgründen durchzogen…“ May schreibt hier über die Wüste nahe der heiligen Stadt Mekka (die er nicht kannte), aber lesen sich seine Worte nicht, als habe er hinausgeschaut zum Albtrauf, zum Boßler, zum Heimenstein, Breitenstein oder Mörikefels? „Verödete Burgen und Schlösser“ lassen uns an Reußenstein und Rauber denken, wie zerfallene Städte wirkten vor 100 Jahren noch die einstigen Landesfestungen Teck und Hohenneuffen. „Wie von der Faust eines unerbittlichen Schicksals zertrümmert liegen liegt das Vulkangestein im Randecker Maar, bei einem Gang durchs Lenninger Tal könnte May zwischen Gelben Fels und Brucker Fels kahlen, nackten Stein gesehen haben. „Oft kühn vereinzelt, oft zu gemeinschaftlichen wilden Zügen vereint“. Wandern und Spazierengehen gehörte zur Lebensart Karl Mays. All diese Eindrücke hat er am Schreibtisch bewusst oder unbewusst verarbeitet. Die Wälder hat er hinwegphantasiert, Sand und Hitze dazu – fertig war sein fernes Traumgebilde.

Der Aufenthalt von Karl und Emma May in der Villa Weise hat irgendwann zwischen 3. August und 30. September 1898 stattgefunden. Verbürgt ist er für die zweite Septemberhälfte. Das Ehepaar Weise kannte man aus der Heimat um Hohenstein- Ernstthal. Weises und Mays hatten 1880 fast zeitgleich in Hohenstein geheiratet. Emma May und Emma Weise waren engere Freundinnen. Bereits 1888 waren Weises in Schwaben heimisch, hatten damals die „Schrauben und Flanschenfabrik Emil Helfferich“ gekauft.

Der Besuch der Mays in Kirchheim war von Emma iniziiert worden, Karl kam er gerade recht. 1898 war er als hemmungsloser Fabulant („Ich bin wirklich Old Shatterhand …“) auf Vortragsreisen in Deutschland und Österreich stürmisch umjubelt worden. Zuhause in Radebeul bei Dresden belagerten regelrecht Verehrer seiner Werke sein Haus. Langsam schien Karl May genug davon zu haben.

In Kirchheim, umgeben von schwäbischer Beschaulichkeit, vollzog er – übrigens gegen jede kommerzielle Überlegung – einen erstaunlichen Bruch seines Schaffens. „Am Jenseits“ hat kaum mehr etwas mit dem bunten Abenteuerroman wie „Durch die Wüste“ oder „Schatz im Silbersee“ zu tun. Der bunte Erzähler in May scheint leer zu sein. Sein Dichterblick geht ins Innere, wendet sich der suchenden Menschenseele zu. Psychologische, philosophische und religiöse Tiefen prägen sein Werk. Nebenbei reflektiert May in verschlüsselten Szenen die eigene Person. Er parodiert die Problematik seiner Ehe in seltener Souveränität, vom eigenen Renomiergehabe der Vormonate distanziert er sich.

Bei der Suche nach neuen inneren Horizonten hilft oft ein neuer äußerer. Karl May schätzte deutsche Landschaften durchaus. Seine Helden reiten nur deshalb durch die Ferne, weil ihm in seiner Jugend schwere Schmach angetan wurde, und deutsche Länder noch keine freie Meinung kannten. So hat wohl unsere Alb durchaus Anteil daran, dass er seinerzeit die Ruhe fand, seinem Ich näher zu kommen. Noch heute mag man daran glauben beim Spaziergang durch die satten Obstwiesen südlich von Kirchheim. Der Blick zu den Felsen und den Burgen des Albtraufes ist Inspiration – nicht nur für Karl May.

Marco Heinz

Karl_May_IMG_8496Villa Weise: Karl May in Kirchheim

Hier in Kirchheim, Dettinger Str. 95, weilte Karl May in der Villa Weise. Heute verwöhnt ein südamerikanisches Restaurant seine Gäste unter ausladenden Ahornbäumen in der Gartenwirtschaft oder in den Gasträumen des „Panama Joe´s“. www.panamajoes.de

Printausgabe: Sphäre 3/2007

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