Explosiv

Geschichte & Orte: Tragik der Muna Haid

Muna heißt Munitionsanstalt, Haid heißt heute ein Ortsteil Engstingens. Hier lastet explosive Albgeschichte. Hitler baute Waffen für seinen Krieg, die Amerikaner deponierten Abschreckung gegen einen Krieg. Dazwischen Schicksale. Die Atomraketen der Amerikaner hielten diesen lieblichen Teil der Schwäbischen Alb ab 1981 in Atem.

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Wer die Höhe eines Gebirges bereist, erhofft sich die Abkehr von Hektik und Lärm, aber auch ein wenig von den Sorgen der Welt. Von der Höhe der mittleren Alb gesehen, schimmert in klaren Nächten am Horizont der Lichtschein Stuttgarts. Etwas näher tanzen die Leuchten des Flughafens. Ein Reisender aus dieser Gegend in Richtung Alb lässt mit Reutlingen und Pfullingen die drittgrößte Metropolregion im Ländle zurück. Sein Weg taucht zwischen die Felsen des Echaztals ein, bevor er sich mit Blick zum Lichtenstein zur Albhöhe hinauf windet. Spätes­tens jetzt kommen frohe Gefühle auf: Ruhe, Romantik, Freizeit. Ein wenig weiter über die Hochfläche aber findet der Reisende bei Großengstingen das Gewerbegebiet „Haid“. Dort lässt sich lernen, dass die Alb zwar Erholungsgebiet ist, aber nicht immer und überall weltfernes Biotop. Denn: Über ein halbes Jahrhundert, von 1938 bis 1993, schrieb die „Haid“ mit an unrühmlichen Kapiteln der Weltpolitik.

Einst war die „Haid“ Gemeindewald, Hort der Ruhe, aber von wirtschaftlicher Bedeutung. Im Jahre 1938 wurde Schultes Oskar Gauch von Luftwaffenoffizieren schroff mitgeteilt, dass es mit der Ruhe vorbei war, Widerspruch ausgeschlossen. 140 Hektar Fläche auf der „Haid“ wurden gebraucht: Das Reich stellte sich seinerzeit um von Zivil- auf Kriegswirtschaft, der Führer stampfte Munitionsanstalten (kurz Munas) aus dem Boden. Nun sollte auch die stille Alb in das das tödlich- laute Kriegsgeschäft einsteigen.

76 Bunker, 12 Arbeits- und Lagerhäuser und 55 Freilagerplätze für Munition hatten sich in den Engstinger Wald gefressen. Die Besatzung der „Muna“, drei Offiziere und 400 Mann, produzierten hier Munition für Geschütze aller Art. Eine kleine Diesellok (die erste in der Gegend) zog die gefährliche Fracht über ein Verbindungsgleis zum Bahnhof, um sie von dort weiter über das Reichsschienennetz an alle Fronten jener kriegsverblendeten Welt zu verschicken. Auch Bauteile der geheimen „Wunderwaffe V1“ lagerten auf der Schwäbischen Alb – der erste Marschflugkörper, der zur sinnlosen Vergeltung eigenständig feindliche Großstädte ansteuern sollte. Adolf Hitler und sein Krieg verbrauchte Männer. Es drohten in der „Muna Haid“ ebenso wie im ganzen Reich die Arbeitskräfte auszugehen. Italienische Zwangsarbeiter, politische Gegner Mussolinis und teils zwangsverpflichtete Frauen aus der Umgebung mussten diese Lücke füllen. Später schufteten auch Kriegsgefangene aus Frankreich und Russland in der Montage, im Transport und im Steinbruch. Die „Muna“ war perfekt getarnt, dank ihrer Lage im Wald und der äußerlichen Ähnlichkeit mit einem Landgut. Erst Anfang 1945, als die Front der Alb schon nahe war, kam ihr die alliierte Luftaufklärung auf die Schliche. Jetzt entfaltete der Bombenkrieg auch auf der mittleren Alb seine unvorstellbare Schockwirkung. Bombergeschwader der US- Airforce steuerten die „Muna“ mehrmals an, den mächtigsten Angriff mit 250 Fluzeugen in mehreren Wellen traf die Anlage am 8. April, einen Monat vor Kriegsende. Bunker, Gebäude und ein Munitionszug mit 50 Wagons explodierten, Flammen, Rauch, umherfliegende Eisenteile. Wie durch ein Wunder wurden die Menschen in den Häusern Engs­tingens verschont. Am 24. April marschierte die US- Army gegen nur schwachen Widerstand in Engstingen ein.

Nach dem Krieg war die „Haid“ ein verseuchtes, explosives Trümmerfeld. Feuerwerker, Kampfmittelräumer und mancher Laie, der von der Not getrieben Schrott aufsammelte, riskierte sein Leben, bevor das Gelände wieder als oberflächlich sauber und nutzbar galt. 1950-53 siedelte eine Lungenheilanstalt auf der „Haid“. In einer Liegehalle ohne Außenwände suchten Kranke die Linderung durch frische Albluft zu finden. Ab 1953 gab die ehemalige „Muna“ Unterkunft für bis zu 800 Flüchtlinge aus den Ostgebieten.

Mitte der fünfziger Jahre sorgte die angedachte militärische Nutzung des Geländes für Zündstoff. Die Gemeinde Engstingen kämpfte indessen vergeblich um ihr einstiges Gelände als landwirtschaftliche Fläche. Auch Eingaben des Abgeordneten und späteren Kanzlers Kiesinger und besonders des Reutlinger Bürgermeisters Kalbfell fruchteten nicht. Im Engs­tinger Wald entstand eine Bundeswehrkaserne, ab 1965 nach Eberhard Finkh benannt, einem am Stauffenberg-Putsch beteiligten und dafür in Plötzensee hingerichteten Oberst.

2000 Soldaten als Neubürger Engstingens veränderten die Gemeindestruktur dramatisch. Neue Arbeitsplätze, hauptsächlich in Handel und Verwaltung, entstanden. So lernten die zunächst skeptischen Älbler mit ihrer Garnison zu leben.

Während der achtziger Jahre dann begann der gesellschaftliche Konflikt wegen der atomaren Bedrohungsszenarien des Kalten Krieges auch auf der mittleren Alb zu toben: Abschreckung mit Atomwaffen gegen den hochgerüsteten Feind im Osten oder doch lieber friedfertig abrüsten? Ein Artikel im „Stern“ enthüllte 1981, dass direkt neben der „Muna“, im von den Amerikanern 1969 eingerichteten „Sonderlager Golf“, Atomsprengköpfe lagerten. Jetzt war es mit der Ruhe endgültig vorbei. Die Friedensbewegung war auf den Plan gerufen. Gewaltfrei, aber heiß ging es her, zehn Jahre lang. Zehntausende Pazifisten demonstrierten im kleinen Engstingen, Demonstranten ketteten sich an Kasernentore, blockierten Zufahrtsstraßen über Tage und Wochen. 400 Urteile wegen Nötigung sprach das Amtsgericht Münsingen gegen Blockierer aus. Das Bundesverfassungsgericht verwarf sie später.

Als sich in den neunziger Jahren der Osten öffnete und die Bedrohung verschwand, wendete sich auch die Lage der Engstinger Kaserne. Schon bald war der Standort strategisch uninteressant. 1993 übergab Stabsfeldwebel Grimm die Schlüssel der zivilen Wachmannschaft. Der letzte Soldat verließ die „Haid“. Die Gemeinden Engstingen, Hohenstein und Trochtelfingen, auf deren Gemarkung das Gelände liegt, gründeten den „Zweckverband Gewerbegebiet Engstingen-Haid“. Bevor neue Industrie auf dem Gelände siedeln konnte, war ein großes Hindernis zu überwinden: Die gefährliche Beseitigung explosiver Altlasten aus einem Weltkrieg und 50 Jahren militärischer Nutzung. Dieses Problem ist bis heute nicht auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen gelöst, der als Herzstück des ­UNESCO-Biosphärenreservates Schwäbische Alb gilt.

Heute arbeiten in der „Haid“ etwa 300 Menschen in Dienstleistung und Industrie. Ein künstlerisches Atelier, Angebote der Volkshochschule und Sportvereine bereichern diesen Ort. Nicht nur Biotope also locken den Reisenden auf die Alb, sondern auch das Andenken an unsere jüngere Geschichte.

Von Marco Heinz

Buchtipp: Soldaten, Sprengköpfe und scharfe Munition

Joachim Lenk, Journalist und ehemaliger Zeitsoldat der Panzerbrigade 28 in Dornstadt, gilt als Kenner der Militärgeschichte auf der Schwäbischen Alb. Nach der Schließung der Eberhardt-Finkh-Kaserne beobachtet er auch die Entwicklung des Gewerbegebietes „Haid“. Die Geschichte von der „Muna“ bis zum Gewerbegebiet hielt er 2006 in seinem reich bebilderten Werk fest.

„Soldaten, Sprengköpfe und scharfe Munition“ Joachim Lenk, Wiedemann-Verlag ISBN 3-9810687-2-6 www.Eberhard-Finckh-Kaserne.de

Printausgabe: Sphäre 2/2012, Seite 32-33

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