Herz aus Stein

Tradition & Handwerk: Murmeln offenbaren die Geschichte der Alb

Die Alb hat ein Herz aus Stein. Die Zeit und der Mensch nagen und mahlen daran. Auf Hochglanz poliert, üben die Kugeln aus Marmor eine unglaubliche Faszination aus. SPHÄRE besuchte die Kugelmühle in Neidlingen.


Glück – ein kostbares Gut. Wer wollte, konnte es in Form von Murmeln an Freunde weitergeben. Denn als Geschenk brachte die anmutige Kugel aus Stein nicht nur dem Beschenkten Glück, sondern auch dem, der sie überreichte. Zumindest galt das zu der Zeit, als Kinder und Erwachsene die Murmel als Spielzeug schätzten und liebten. Edle Sammlerstücke wurden gar vererbt.

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Von Glück überschwemmt scheint die Gemeinde Neidlingen am Fuße der Schwäbischen Alb. Denn hier formt seit zwei Jahren die einzige produktive Kugelmühle Deutschlands die Glücksbringer aus Marmor zu Hauf. Agraringenieur Stefan Metzler haucht diesem in Vergessenheit geratenen Handwerk neues Leben ein. Gelten doch die Murmeln als das älteste Spielzeug der Welt. In prähistorischen Höhlen fanden Forscher Steinkügelchen, mit denen sich Menschen die Zeit vertrieben.

Eine Portion Glück, vor allem aber Erfahrung braucht der Kugelmüller bei der Auswahl des Gesteins für seine Rohlinge, die schließlich die Wasserkraft in einer Mühle zu Kugeln formt. Denn so mancher Stein, den der Erbauer der Kugelmühle in Neidlingen in Händen hält, erfüllt seine Hoffnung nicht: „Ist das Gestein von Rissen durchzogen, kann ich es für die Weiterverarbeitung nicht mehr verwenden“, erklärt Metzler. Doch Risse im Fels sind im ehemaligen Vulkangebiet der Schwäbischen Alb der Normalfall. Deshalb wird der Marmor in den Steinbrüchen für Straßenbauzwecke verschottert.

Eine edlere Bestimmung erfahren die Steine, die der Neidlinger Kugelmüller traditionsgemäß ausschließlich in heimischen Steinbrüchen findet. In der obersten Gesteinsschicht der Schwäbischen Alb, dem Weißjura, gibt es Inseln aus Marmor, weiß Metzler. Ein hochwertiges Material, das unter dem Druck und der Hitze der durchbrechenden Vulkane aus dem Weißjura-Kalkstein entstand. Die Liebe zur heimischen Natur und das Wissen um deren Ressourcen brachte die Kugeln in Neidlingen sprichwörtlich ins Rollen. Die Faszination an alter Technik trieben schließlich die Planung und den Bau der Kugelmühle voran. „Die Nutzung der Wasserkraft ohne Umweg über elektrischen Strom direkt zum Produkt“, begeistert Metzler. Nach zwei Jahren Arbeit war die Kugelmühle im Jahr 2005 bereit, ihren Dienst anzutreten. „Dass die Kugelmühle so gut funktioniert, ermöglichen die Naturgesetze“, kommentiert der Kugelmüller bescheiden. Doch bevor die Mühle sich dreht, tüftelte der Müller mit den Wasserverhältnissen vor Ort wie der Fallhöhe, der Wassergeschwindigkeit und -temperatur.

Diese Fertigkeiten kursierten schon vor 1000 Jahren. Im Berchtesgadener Raum und im Salzburger Land verbesserten im 15. Jahrhundert Bergbauern mit der Herstellung der Glücksbringer ihren kargen Lebensstandard, indem sie die Murmeln am Markttag ins Tal brachten und die begehrte Ware dort verkauften. Händler verbreiteten die Kugeln als Spielzeug in ganz Europa.

Beliebt sind die schimmernden Murmeln immer noch.  In der Gameboy-Generation sind sie zwar in Vergessenheit geraten, nicht aber bei älteren Menschen. Kindheitserinnerungen werden wach, lassen die Besucher die glatten Kugeln durch die Finger gleiten. An Sonn- und Feiertagen können Interessierte den Mühlenbetrieb beobachten. Groß und Klein lauschen von der Brücke herab den Erklärungen des Kugelmüllers.

Dieser steigt, eingehüllt in einen dichten Regenmantel, hinab zum eingefassten Seebach im Ortsinnern Neidlingens. Hier erklärt er die Mühle, die im Zeitraffer das tut, was in einem Fluss natürlicherweise immer geschieht. Die Kraft des Wassers rollt kantige Steine im Bachbett so lange aneinander, bis sie sich schließlich zu rundlichen Kieseln abgeschliffen haben. Der Kugelmüller gibt mit seiner Anlage der Kraft lediglich eine gezielte Richtung. Vier Rinnen hinter einer Staufstufe führen das Wasser ab, das die hölzernen Flügelränder antreibt. Sie sind verbunden mit ebenfalls hölzernen Drehtellern, die sich passgenau auf den Mahlstein legen. Im Innern rollen nun die Rohlinge in den eingemeißelten Rillen im Mahlstein so lange, bis sie eine runde Form angenommen haben. Im Schnitt dauert das 24 Stunden.

Den letzten Schliff gibt dem Kunstwerk der Meister selbst. Mit viel Gefühl hält er die Kugeln in seiner Werkstatt in der kleinen Ziegelhütte an eine rotierende Filzscheibe. Tausendstel Millimeter enfernt der Poliervorgang. Dann liegt der Kristall blank und verzaubert durch seinen Glanz. Zwischen vier und 28 Euro verlangt Metzler für die Unikate. Tatsächlich gleicht keine Kugel der anderen, doch jede gewährt dem Bewunderer Einblick in die Entstehungsgeschichte der Schwäbischen Alb.

Tradition und Handwerk: Kugelmühle in Neidlingen

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Printausgabe: Sphäre 3/2007, Seite 4-5

WEBcode 15147

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