Naturpark Tiroler Lech

 Nationale Landschaft: Naturpark Tiroler Lech – Europas letzter Wildfluss bleibt ungezähmt

Ein Stoff, aus dem Träume sind. Die Wannenspitze thront auf 2363 Meter Meereshöhe über dem wilden Lech. Hier wanderte schon Anna, alias Geierwally, vor 160 Jahren – lange bevor das Rendezvous der Lechtalerin mit dem Adlernest den Stoff für zwei Bücher und fünf Verfilmungen lieferte.

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Europas wildes Tal

Ein Stoff, aus dem Träume sind. Die Wannenspitze thront auf 2363 Meter Meereshöhe über dem wilden Lech. Hier wanderte schon Anna, alias Geierwally, vor 160 Jahren – lange bevor das Rendezvous der Lechtalerin mit dem Adlernest den Stoff für zwei Bücher und fünf Verfilmungen lieferte.

Oben in Adlershöhe, am schwindelnden Abhang stand eine Mädchengestalt, von der Tiefe heraufgesehen nicht größer als eine Alpenrose, aber doch scharf sich abzeichnend vom lichtblauen Himmel und den leuchtenden Eisspitzen der Ferner. Fest und ruhig stand sie da, wie auch der Höhenwind an ihr riss und zerrte, und schaute nieder schwindellos in die Tiefe.“ Mit diesem Szenenbild aus dem Jahre 1875 skizziert Wilhelmine von Hillern in ihrem Bestseller „Die Geierwally“ ein Stück Lechtal, das Literatur- und noch mehr Filmgeschichte schreiben sollte.

Fotos & Text Sphäre-Verlag

Thema: Eine emanzipierte junge Frau nimmt mutig ein Adlernest aus, weil sich die Männer im Tal nicht trauten. Die Geschichte ist wahr, die Abenteuerin heißt Anna und erblickte hier in Elbigenalp das Licht der Welt. 1858 seilte sie tatsächlich zu einem Adlernest ab, einen Bergrücken entfernt, an dem dieses Foto oben entstand.

Insgesamt fünf Kinostreifen drehen sich um das tierische Abenteuer der Anna vor bald 160 Jahren. 1921 noch als Stummfilm, zuletzt 2005 als moderne Fernsehproduktion gesendet von der ARD. Doch bis auf die Kletterpartie, nachweislich ohne den inszenierten Adlerkampf, hatte das Leben der echten Geierwally mit der landläufigen Heimatschnulzerei wenig zu tun. Sie studierte Kunst, lebte gut von ihrer Malerei (gestorben 1915). Von wegen Drama, aber emanzipiert war sie schon, die Lechtalerin.

So wie auch der Fluss vor ihrer Haustür damals wie heute ein wildes, selbstbestimmtes Dasein genießt, irgendwie besonders, aber doch unauffällig normal. Wenig Showbiz, wenig Publikum. Zum Glück. Trotz Geierwally-Hype blieb bis heute das Lechtal vom Ansturm der Sommerfrischler und Skipistenhelden verschont. Der Grund: Die Bestsellerautorin von Hillern verlegte die Originalhandlung aus dem einsamen Lechtal ins renommiertere Ötztal. Darum urlauben die Liebhaber hier unter sich. Entweder sie pedalieren einsam über den traumhaften Radweg durchs Tal oder wandern auf einem der flankierenden Halbhöhentrails. Ambitionierte Tourengeher suchen eher wie einst Geierwally die Einsamkeit zwischen den Felswänden im Schatten der mächtigen Zweieinhalbtausender.

So gräbt sich der Lech mal tosend, mal gemächlich durch eine angenehm ruhige Zeit. Er darf noch fließen, wohin ihn die Schwerkraft treibt. 1000 Jahre links herum, dann mäandriert er plötzlich nach rechts. Die zu Böschungen angewachsenen Kiesbänke am Fuße der malerischen Seitentäler wachsen beständig. Es ist erst wenige Erdenleben her, dass die Menschen auf diesen Anhöhen siedelten. Sie mieden die Talsohlen. Denn sie wussten: Die Natur entfesselt bisweilen Kraft – Hochwasserkraft.

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 Gratwanderung – wandeln auf Geierwallys Spuren.

1910 beispielsweise: In Geierwallys Bergen gleißten die Gipfel im Sommer immer noch winterlich weiß. Am Schicksalstag, den 14. Juni allerdings schmolz die weiße Pracht im Sturm zahlreicher Wolkenbrüche dahin. Der Lech schwoll zu einem reißenden Strom. Sieben Brücken im Tal riss er fort. Zahlreiche Triftklausen und Sperren verschwanden in den Fluten. Bei Steeg führte der Lech fast 300 Kubikmeter Wasser pro Sekunde statt gewöhnlich nur 12. Im Jahre 2005 wiederholte sich das Schauspiel. Eine Katastrophe für den Mensch, eine Episode für Mutter Natur.

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Schweben wie Geierwallys Adlerlegende Seit 2011 erleben Lechweg-Wanderer bei Holzgau exklusive Perspektiven. 105 Meter lässt das Gitterrost der 200 Meter langen Seilhängebrücke in die Tiefe blicken.

Denn Leben ist Veränderung. So eine Flutwelle gibt dem Lech womöglich einen neuen Kurs. Die schwungvollen, trockengefallenen ehemaligen Uferböschungen in unterschiedlichen Höhenebenen geschichtet, bezeugen die Beständigkeit der Launen. Jahr um Jahr gräbt sich der Lech tiefer in die Talsohle ein. Aktuell beträgt die Meereshöhe 855 bei Reutte und 40 Kilometer südlich im Gebirge bei Steeg rund 1128 Meter. Der Lech entspringt auf 1840 Meter Höhe.

Lag hier nicht letztes Jahr eine Schotterbank? Stattdessen staut sich eine Biegung weiter plötzlich Treibholz massiv. Geröll verfängt sich. Bald überragt eine Insel den Wasserspiegel. Ein Samen fällt, Pioniergräser blühen. Schließlich trotzt sogar eine kleine Kiefer auf diesem jungen Biotop erfolgreich dem Schmelzwasser.

Weniger effektiv allerdings stellt sich bisweilen die Natur banalen Wirtschaftsinteressen entgegen. Staustufen, Talsperren – der Mensch bewegte in kürzester Zeit katastrophal viel Erde, dirigierte Flüsse um, staute mehr Wasser, als es Lawinen und Muren vermochten. Auch das Lechtal hatten Energiekonzerne im Visier. Doch Bürger begehrten auf. Nun spannt sich statt einer Stau­stufe eine wundersame Holzbrücke über den Lech – das Naturparkhaus (Foto Kasten). Es krönt symbolträchtig Europas wilden Fluss, so wie in wohl auch Geierwally gesehen haben mag.

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Übersichtskarte

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Fließen, wohin die Schwerkraft treibt

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Monumental: Das Naturparkhaus thront auf einer Brückenkonstruktion über dem Lech.

Naturpark Tiroler Lech: 2014 erhielt der Lech das Prädikat „Naturpark“. Seit 2000 bereits gehört dieser Fluss dem europaweiten Schutzgebietsnetz Natura 2000 an, deren Flora-Fauna-Habitat- und Vogelschutzrichtlinie die Verhaltensgrundlage für dieses Ökosystem bilden.

Geierwallys Heldentat, ein Adlernest zu plündern, weil diese Raubvögel die Lämmer im Tal bedrohen, wäre heute also undenkbar. „Ecological correctness“ aber wird salonfähig, weshalb die moderne Film-Wally in der 2005er-Produktion nicht das Nest plündert, sondern nur ein verlassenes Adler-Junges rettet.

Diesem Bewusstseinswandel schließlich ist auch der Schutz dieser einmaligen Flussauen geschuldet. Sie gelten als „Dschungel Mitteleuropas“, weil vergleichsweise artenreich. Ein Drittel (1116 Arten) aller in Tirol heimischen Pflanzen wachsen hier. Davon sind 392 Arten sehr wertvoll und als gefährdet eingestuft. Der Lech dient als Verbreitungsachse, entlang dem nicht nur der Wind die Pflanzensamen transportiert, sondern auch das Wasser.

Das Schutzgebiet umfasst den Wildfluss Lech mit angrenzenden Überflutungszonen und Auwäldern, die wichtigsten Seitenzubringer sowie Teile von Bergmischwäldern. Der Naturpark Tiroler Lech ist somit das größte zusammenhängende Schutzgebiet im Talbereich Tirols. Der Lech fließt über 62 Kilometer in einer West-Nordost-Ausrichtung durch den Naturpark, bis er an der süddeutschen Staatsgrenze nördlich von Reutte bei Vils/Pinswang Österreich verlässt.

Naturpark Tiroler Lech: 4138 Hektar / Höhe: 800 bis 1380 m. Vergleich: Biosphärengebiet Schwäbische Alb 85300 Hektar, Ehemaliger Truppenübungsplatz Münsingen 3700 Hektar.

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 Freiheit – fließen, wohin die Schwerkraft treibt. 

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Printausgabe: Sphäre 1/2017, Seite 32-35

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