Landschaftsportrait: Valle Maira – Einsamkeit hat in Italiens Provence einen Namen
Das piemontesische Hochgebirge zieht sich in einem weiten Bogen an der italienisch- südfranzösischen Grenze entlang. Es gehört zu den urtümlichsten und einsamsten Alpenregionen. Versteckt und vergessen liegt hier das Valle Maira, ein sich westlich der Provinzhauptstadt Cuneo eng windendes Tal.
Versteckt und vergessen
Das piemontesische Hochgebirge zieht sich in einem weiten Bogen an der italienisch- südfranzösischen Grenze entlang. Es gehört zu den urtümlichsten und einsamsten Alpenregionen. Versteckt und vergessen liegt hier das Valle Maira, ein sich westlich der Provinzhauptstadt Cuneo eng windendes Tal.
Entdeckung der Langsamkeit: Einspurige Brücken, schmal sich windender Asphalt auf 45 Kilometer Länge. Das tief eingeschnittene Valle Maira in den italienischen Westalpen nimmt per Auto mehr Zeit in Anspruch als ein Kurztrip von der schwäbischen Alb in die Allgäuer Alpen. Dronero, ein Städtchen als Zugangspforte dieses urwüchsigen Tals, grenzt die hier schroff beginnende Bergwelt scharf ab von der Ebene rund um die Provinzhauptstadt Cuneo im Piemont.
Einsam – in Canosio leben nur 80 Menschen.
Gleichzeitig aber markieren die mittelalterlichen Stadtmauern Droneros den letzten Außenposten der Zivilisation. Hinter der Ponte del Diavolo, einer schmalen Steinbogenbrücke über dem Fluss Maira aus dem Jahre 1428, erhebt sich ein sehr enges Sträßchen hinauf in die Westalpen zu einer am dünnsten besiedelten Region Europas. Im Mairatal bewohnen nur zwei Einwohner einen Quadratkilometer. Zum Vergleich: Auf der Schwäbischen Alb beleben dieselbe Fläche durchschnittlich 100 bis 250 Menschen. Diese ungewöhnliche Stille, die eine massive Landflucht ab 1870 hinterließ, gilt heute als Bonus, mit dem Valle Maira bei Individualtouristen punktet. Wanderer, Kletterer, Biker – all jene, die Ursprünglichkeit suchen, finden hier eine etwas heilere Welt.
Multisport – Mountain-Biker und Wanderer sind am Passo della Gardetta (2440 m) gern gesehen.
Eine Welt, in der auch der Wolf wieder seinen Platz gefunden hat. Nach dem Abschuss des letzten Canis lupus im Piemont 1921 hatten Viehhalter ihre Schafherden im Sommer oft sich selbst überlassen. Doch die Wölfe kamen zurück. 2009 fielen ihnen 195 Tiere in den Tälern rund um Cuneo zum Opfer. Die Bauern reagierten – allerdings auf friedliche Weise. Sie verringerten ihre Verluste drastisch, indem sie nun mehrere Herden gemeinsam hegten mit mobilen Elektrozäunen, Wachhunden oder wie hier üblich mit Esel oder Lamas als Abschreckung.
Wasserlauf – das Ziel ist die salzige Adria.
Den respektvollen Umgang des Menschen mit der Natur haben sich die einheimischen Unternehmen auf ihre Fahnen geschrieben, als sie 2013 das „Consorzio Turistico Valle Maira“ gründeten. Die auch auf Deutsch perfekt formulierten, tiefschürfenden Gedanken auf „www.vallemaira.org“ verraten die Herzlichkeit für die Heimat. Keine Phrasen, keine PR-Plattitüden – stattdessen heben leidenschaftliche Texte und maximaler Sachverstand das vergessene Tal ins Rampenlicht der digitalen Welt. Dabei ist dies keine behördliche Initiative, sondern rein privat.
Alpensalamander: Die Ohrenspeicheldrüsen horten bis zu fünf Milligramm Gift. Bei Gefahr reicht der dünne Strahl einen Meter weit. In den Südalpen besitzt der 15 Zentimeter lange Giftspritzer Seltenheitswert. Er begnügt sich mit wenigen Quadratmetern als Lebensraum.
Ebenso wie die Entscheidung, in einer der einsamsten Regionen Europas zu leben, eine höchst persönliche ist. Das Maira-Tal besaß niemals politische Unabhängigkeit. Trotzdem lebten die Gebirgsbewohner von Felsen abgeschottet autonom. Die Verbindungen zu den Gebieten jenseits des Alpenhauptkamms ins heutige Frankreich und über die Wasserscheiden hinweg in die Nachbartäler war stärker als der Bezug zur Tiefebene. Daher konnte sich in diesem abgelegenen Gebirge eine aus sich heraus eigenständige Kultur entwickelt: Okzitanien. Valle Maira besaß sogar eine eigene Sprache (Okzitanisch) und einen eigenen Glauben. Die Mischung mehrerer religiöser Anschauungen wie Katholizismus, Calvinismus, Volks- und Aberglaube nährte hier eine besondere Vorstellung von Spiritualität.
Eigenwillig, weil vielfältig, herrscht auch das Klima. Die Wasser der Maira sammeln sich im Schatten rund 2700 Meter hoher Gipfel, um den Weg ins 2000 Meter tiefere Dronero zu schürfen. Die heißen Winde des nahen Mittelmeers oder über der Po-Ebene hinweg lenkt das enge Tal weit ins Gebirge hinein. Wirksam bremst der Ost-West-Verlauf der Gebirgsflanken, die die Maira rahmen, den Zustrom der kalten Nordluft. Zahlreiche Mikroklimata entstanden, die ihrerseits mannigfaltige Lebensräume schufen für eine außergewöhnliche Flora und Fauna. So tummeln sich in den vielen Nischen neben alpentypischen Bewohnern wie Gämsen und Murmeltiere auch Vertreter der asiatischen Steppe: Das Alpenschneehuhn, der Schneehase, Bergfasan oder Hermelin fanden im Valle Maira ein zu Hause – eine Heimat, in der 1000 Jahre okzitanische Kultur die Harmonie zwischen ihnen und dem Mensch bis heute prägen.
Beliebt – Col del Preit als Ausgangspunkt (Talende, 2080 m).
Aktivurlaub – hier atmet die okzitanische Kultur.
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Übersichtskarte
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Lebensgefühl: In Cuneo wird Vergangenheit sichtbar
Schon alleine die Via Roma, die Hauptstraße durch das historische Zentrum von Cuneo, ist einen ausgedehnten Ausflug wert (Foto unten). An dieser historischen Straße entstanden auf dem höchsten Punkt der keilförmigen Anhöhe (534 m) die ersten Häuser der 1198 gegründeten Stadt: Cuneo, zu deutsch Keil. Die eigenwillig schmale Ausdehnung der Altstadt haben die beiden spitz zulaufenden Flüsse Gesso und Stura geformt. Am südlichen Ende öffnet sich die Via Roma zur prachtvollen Piazza Galimberti, deren 24000 Quadratmeter große Pflaster- steinfläche von neoklassizistischer Architektur gerahmt wird. Als einer der größten Plätze Italiens bietet er dem berühmten Wochenmarkt jeden Dienstag üppig viel Raum. Zu Recht heißen die Einheimischen ihre Piazza Galimberti die „Lounge von Cuneo“. Weit über das Piemont hinaus sind in Italien die Esskastanien aus Cuneo bekannt. So huldigt die heimliche Hauptstadt der Marone dieser nahrhaften Frucht mit ihrem alljährlichen Volksfest im Herbst. Die Marone, auch Brot der Täler genannt, nährte die Bauern auch im nur 20 Kilometer entfernten Valle Maira.
Arkaden der Via Roma: Die Säulengänge hinter den Hausbögen laden zum beschaulichen Stadtbummel ein.
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Printausgabe: Sphäre 3/2018, Seite 32-35