Nationalpark: Écrins (Nord), Frankreich

Nationalparkporträt: Écrins, Frankreichs sportives Gebirge öffnet Tore zur Einsamkeit

Nirgendwo kommt man aus eigener Kraft dem Himmel näher als im Gebirge. Doch Fitness fällt nicht vom Himmel. Man muss fleißig trainieren. Darum kommen nur wenige in den Genuss, die gigantischen Eisgipfel des Nationalparks Écrins von Nahem zu bestaunen – ambitionierte Wanderer eben. Und gestählte Radsportler, denen das Erklimmen der berühmten Tour-de-France-Alpenpässe hier ein unbeschreibliches Hochgefühl vergönnt.

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Gletscherwasser aus dem Nationalpark Écrins bahnt sich den Weg durchs Vénéon-Tal hinunter nach Le Bourg-d’Oisans.

Himmelsleiter

Nirgendwo kommt man aus eigener Kraft dem Himmel näher als im Gebirge. Doch Fitness fällt nicht vom Himmel. Man muss fleißig trainieren. Darum kommen nur wenige in den Genuss, die gigantischen Eisgipfel des Nationalparks Écrins von Nahem zu bestaunen – ambitionierte Wanderer eben. Und gestählte Radsportler, denen das Erklimmen der berühmten Tour-de-France-Alpenpässe hier ein unbeschreibliches Hochgefühl vergönnt.

Trittfest: Das ist Wandern. Von wegen langweilige Forstwege oder gar landwirtschaftlicher Asphalt. Der Einsatz von Kraft und Geschick steigern das Erfolgserlebnis.

Der beste Schutz gefährdeter Flora und Fauna ist immer noch die Unwegbarkeit. Wo keine Straßen, da auch kein Massentourismus, wo keine Seilbahnen, da keine johlenden Sommerfrischler. Wer (ansatzweise) auf Augenhöhe mit den wenigen Gänsegeiern im Nationalpark Écrins in den französischen Alpen kommen will, muss sich schon ein wenig anstrengen. Nur steile, urige Wanderpfade erschließen die traumhaften Winkel der Region, schmale einspurige Bergstraßen, teils nur geschottert, führen zu Alpendörfern und abgelegenen Höfen.

Die geologisch, geographisch und meteorologisch großen Unterschiede rund um Le Bourg-d’Oisans schufen mannigfaltige Ökosysteme, in der sich überdurchschnittlich zahlreiche Pflanzen- und Tierarten günstig entwickelten. Agropastoralismus prägte die Landschaft (lateinisch ager = Acker; pastor = Hirte). Diese traditionelle, zur Selbstversorgung ausgerichtete Wirtschaftsform kombiniert Ackerbau mit Viehhaltung auf Naturweiden. Diesen Heuwiesen sei Dank, dass trotz der harten klimatischen Bedingungen großer biologischer Reichtum grünt.

Gebirgswege – zu schmal für flotte Autofahrt.

Oberhalb von etwa 2200 Metern kreuzen die Wanderpfade würzige Bergwiesen, die Weidegründe der Rinder- und Schafherden. Diese urige Steppenlandschaft wechselt mit bemerkenswert feuchten Gebieten in den Tälern. Den Oisanern ist dank der Gletscher unerschöpflich Wasser vergönnt. Torfmoore, Seen, glasklare Flüsse begleiten deren Leben auf Schritt und Tritt – und sie umspielen auch sprudelnd und gurgelnd das klassische Urlaubsdasein im historischen Städtchen Le Bourg-d’Oisans: Denn dieses auf 701 Metern erhaben liegende Alpenidyll befindet sich im Schnittpunkt von sechs Flusstälern. Hier endet die Reise mit der Bahn, hier beginnen die berühmt-berüchtigten Radtouren auf Alpenpässen der Tour de France. Beispiel: Die 21 Kehren hinauf nach Alpe d’Huez besitzen Kultstatus, der 48 Kilometer entfernte, 2642 Meter hohe Col du Galibier macht aus Tourenradlern kleine Ausdauerhelden. Mit leise surrenden Ketten nehmen jedes Jahr tausende Bike-Urlauber aus ganz Europa diese schweißtreibende Herausforderung an. Dem Gelben Trikot, auf französisch maillot jaune, verdankt dieses kleine Städtchen seine Weltberühmtheit. Der Kontrast zwischen dem bunten, sportiven Treiben im Tal und der Einsamkeit in der abgeschiedenen, kaltfahlen Bergwelt besitzt in der Tat einen besonderen Reiz.

La Bérarde – Trinkbrunnen an jeder Ecke.

Man kann hier beides ungestört erleben. Denn: Dieses gewaltige von 150 Gipfeln mit über 3000 Meter Höhe aufgewölbte Bergmassiv schottet sich vom Massentourismus erfolgreich ab. So liegt im Herzen des Nationalparks versteckt das Örtchen La Bérarde (Foto oben). Ein 33 Kilometer langes Gebirgssträßchen, ein Traum für Bioradler und E-Biker, führt hoch über dem Vénéon-Tal bis auf 1713 Metern zu den letzten Häusern. Parallel dazu begleitet ein Wandertrail tief unten den wilden Gebirgsfluss zum Ende der Zivilisation. Ab La Bérarde geht es definitiv nur noch zu Fuß voran (Foto unten) zu den Schutzhütten im Schatten der gleißenden Gletscher am Gipfel (Foto ganz oben).

Ende der Zivilisation – hinter La Bérarde geht es nur zu Fuß im Nationalpark Écrins voran.

Der 1800 Quadratkilometer große Nationalpark läßt sich auch umrunden – in Wanderschuhen. Schilder des GR 54 (GR steht für Grand Route) weisen 188 Kilometer lang Richtung und Weg. 11380 Höhenmeter geht’s über Gipfel, Pässe und Almen ständig auf und wieder hinab. (Tourinfo hier >>).
Wer weiß, vielleicht begleitet ein Gänsegeier die Tour. Dank seiner bis zu 2,69 Meter mächtigen Flügelspannweite benötigt der König der Lüfte bei gutem Aufwind für solch eine Strecke fast keinen Flügelschlag. Aber dafür eine Portion Überlebensglück. Vor 50 Jahren war dieser Vogel verschwunden, geschossen, vergiftet. Erst seit Auswilderungsaktionen um die Jahrtausendwende kehrte er zurück.

Szenenwechsel: Auch wenn der Tourismus rund um Le Bourg-d’Oisans mit seinen sechs Campingplätzen zahlreiche Urlauber vermuten lässt, herrscht dennoch eine ruhige Atmosphäre. Dies liegt zum einen an der französischen Genießermentalität, zum anderen an der Zufriedenheit der überwiegend als Individualtouristen angereisten Wander-, Berg-, Wasser- und Radsportler. Aktivurlauber sind eben keine Ballermänner. Intakte Natur bleibt deshalb leise, ist niemals schrill und laut.


 

Übersichtskarte


 

Le Bourg-d’Oisans: Ab hier regiert massive Natur

Die rund 3300 Einwohner des Städtchens Le Bourg-d’Oisans (Foto oben) leben hauptsächlich vom Tourismus. Vier Skigebiete, darunter die bekannten Pisten „Alpe d’Huez“ und „Les Deux Alpes“, locken Skifahrer aus aller Welt. Doch auch Wandern steht hoch im Kurs. Besonders der Écrins-Nationalpark und die Natura 2000-Gebiete als geschützte Zonen der vielfältigen Ökosysteme versetzen in andächtiges Bewundern. Staunen dürfen auch Radsportfans. Bereits zum 19. Mal startete hier am 15. Juli 2022 eine Tour de France-Etappe. Kein Wunder also, dass sich hier fast alles ums Rad dreht (Foto unten).

Fußwegschranken – Oisaner leben den Radsport.


 

Nationalpark Écrins: Unwegsam macht einsam

Kleinste Bergstraßen, teils nur geschottert erschließen nicht, sondern schützen diese gewaltige Gebirgsregion vor autovernarrten Touristen, die, wenn es ginge, bis zu Gipfelkreuzen fahren. Ebenso schrecken die herrlich unwegsam verwunschenen Naturpfade den typischen Seilbahnurlauber ab. So bleibt man im Pelvoux-Massiv mit der „Barre des Écrins“ als südlichster Viertausender (4102 m) oft allein. 1973 erhielt diese Perle der Provence in den französischen Alpen das Prädikat „Nationalpark“ – 1800 Quadratkilometer voller Gletscher, Wasserfälle, Seen und Almen. In der 900 Quadratkilometer großen Kernzone genießt die Natur absolute Vorfahrt. Hier fühlen sich Steinadler, das Symbol des Nationalparks, der Lämmer-, Gänse- oder Mönchsgeier wohl. Häufig begleiten die Warnschreie der Murmeltiere den einsamen Wanderer. Seltener dagegen kreuzen Steinböcke, Wölfe und Luchse die wilden Bergtrails. Rund 700 Kilometer Wanderwege erschließen den Nationalpark.
Über 2500 Pflanzenarten haben sich an das Extremwetter zwischen gemäßigten 800 Metern bis hinauf zu eisigen Viertausendern angepasst. 150 Gipfel recken sich über die 3000er-Marke. Zum Vergleich: Deutschland besitzt nur einen einzigen Fast-3000er, die Zugspitze mit 2962 Metern. Mehr als 350 Wirbeltierarten haben die Forscher gezählt. Seit über 40 Jahren sammeln Spezialisten Daten von rund 300000 Wildtieren.
Nationalpark Écrins: 178600 Hektar (Kernzone 91800 Hektar) / Höhe: 800 bis 4102 m. Vergleich Biosphärengebiet Schwäbische Alb: 85300 Hektar, ehem. Truppenübungsplatz 3700 Hektar.

Tour de France 2022

Wieder einmal mehr gastierte das interationale Fahrerfeld in diesem schönen Teil der Alpen zwischen Briançon und Le Bourg-d’Oisans. Die höchsten Pässe standen auf dem Routenplan. An zwei Tagen musste das Peleton gleich zwei mal über den Col du Galibier (2645 m) und schließlich nach Alpe d´Huez hinauf (Fotos unten). Im Schlepptau reisten zehntausende Zuschauer an. Viele mit dem eigenen Fahrrad im Reisegepäck, um einerseits als Zuschauer selbst einen der Tour-Pässe hinauf zu radeln, andererseits genießen sie nach dem Tour-Trubel die Ruhe entlang der zahlreichen kleinen Bergstraßen in der Nationalparkregion mit dem eigenen Fahrrad.

Tour de France hinauf nach Alpe d´Huez: Einen Tag lang geselliges Beisamensein, um den nur kurzen Augenblick des sportliche Großfeuerwerks mit allen Sinnen zu genießen. Im Windschatten dieses Ereignisses nimmt die Bekannheit der Region des Nationalpark Écrins ständig zu.


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Printausgabe: Sphäre 2/2022, Seite 30-33

 

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