Winterporträt: Radweg entlang des italienischen Parco Naturale Valle Ticino
100 Kilometer radeln durch eine der einsamsten Flusslandschaften Europas. An die Ufer des wasserreichen Fiume Ticino haben sich die Häuslebauer nicht hinunter getraut. Mussten sie auch nicht, denn die endlos flache Tiefebene ringsum bot genügend Platz für Städte, kleine Dörfer und ihre Gehöfte.
Die Weltabgeschiedenheit wird während der Wintermonate noch um ein Vielfaches verstärkt, da alles, was nach Urlaubszielen sucht, sich an den skialpinen Hotspots der Hochgebirge orientiert.
Flach-Etappe
100 Kilometer radeln durch eine der einsamsten Flusslandschaften Europas. An die Ufer des wasserreichen Fiume Ticino haben sich die Häuslebauer nicht hinunter getraut. Mussten sie auch nicht, denn die endlos flache Tiefebene ringsum bot genügend Platz für Städte, kleine Dörfer und ihre Gehöfte.
Die Weltabgeschiedenheit wird während der Wintermonate noch um ein Vielfaches verstärkt, da alles, was nach Urlaubszielen sucht, sich an den skialpinen Hotspots der Hochgebirge orientiert.
Abbiategrasso – ab hier fließt der Ticino breit.
Der Winterhimmel steht Kopf. Scharf spiegelt sich der Monte Rosa im Wasser des Ticino. Der schneeweiße Horizont des ausgedehnten Gebirgsmassivs mit seiner 4634 Meter hohen Dufourspitze markiert die Grenze zwischen Italien und der Schweiz. Ebenso wie der Lago Maggiore. Im Norden gehört er den Eidgenossen, hier aber im Süden bei Sesto Calende den Italienern.
Mit dieser Alpenkulisse im Rücken beginnt nun eine 100 Kilometer lange Radwanderung nach Pavia durch ein Biosphärenreservat, dessen Ursprünglichkeit die Anerkennung der UNESCO wirklich verdient: Doch bevor der „Parco Naturale Valle Ticino“ den Radler in absolute Ruhe und Einsamkeit verhüllt, aktiviert ein Espresso in einer der belebten Bars an der Uferpromenade zuerst die Beine. Die Sonne flimmert, träge schiebt sich das Wasser des hier zum Fiume Ticino verjüngten Lago. Weihnachtsgebäck duftet, Tannenschmuck glitzert. Irgendwie will das Christenfest so gar nicht zu den südländischen Häuserfassaden passen, die Temperaturen aber schon: Fünf Grad Celsius zeigt das Thermometer. Doch das schreckt die entspannt flanierenden Italiener kaum: glamouröse Wärme in elegant grauen Wollmänteln, hier und da flattern handgefertigte Seidenschals aus Milano im Wind. „Moda all’italiana“ setzt optische Akzente zu jeder Jahreszeit. Doch nur hier, denn von nun an bestimmt „Natura dell’Italia“ die visuellen Eindrücke. Schon fünf Kilometer weiter in das Flusstal des Ticino hinein sind Armani, Versace, Gucci und Prada zu einem unscharfen Nachhall der Zivilisation verblasst. Das flache Sonnenlicht als Modeschöpfer erhellt die wintermatte Flusslandschaft zu einem bunten Leuchtfeuer, das dann am Abend zu milden Pastelltönen verglimmt.
Zu dem Naturpark gehören nicht nur die üppige Vegetation im Feuchtgebiet des Flusstals, auch mehrere Hügel, bewässerte landwirtschaftliche Gebiete sowie eine trockene Hochebene gehören dazu. Kleine Ortschaften und Städte gliedern diese flache, endlose Weite. Das Tal selbst dagegen blieb unbesiedelt als Refugium für die 50 teils vom Aussterben bedrohten Tierarten. In diesem ersten Abschnitt des Radwegs hat die Natur das Sagen. Die Strecke schlängelt sich durch die typische Voralpenlandschaft zwischen Kastanien-, Eichen- und Kiefernwäldern. Am Fluss finden sich Silber-, Grau- und Seidenreiher ein sowie Stockenten und Wasserhühner.
Casorate Primo – Abstecher ins Flachland.
Während des Winters bleibt man mit der Tierwelt allein. Hin und wieder spazieren Einheimische. Mehr noch wird man im Land der Tifosi Rennradfahrer treffen. Sie drehen vor Sonnenuntergang still ihre Feierabendrunden. Im Sommer wiederum locken die fast steigungsfreien Kilometer unterschiedlichste Freizeitmobilisten aus ganz Italien an: auf dem Pferd, in einer Kutsche, mit Inline-Skates, einem Kanu und natürlich viele mit Fahrrädern, mit und ohne E-Motor.
Der 248 Kilometer lange Ticino (deutsch Tessin) entspringt beim Nufenenpass in der Schweiz, fließt in den Lago Maggiore, verlässt den See bei Sesto Calende, um entlang einer der schönsten Radrouten bei Pavia in den Po zu münden. Hier in Pavia dampft dann wieder unser heißer Espresso. Im Unterschied zum beschaulichen Ambiente von Sesto Calende, dem Start dieser Tour, pulsiert im historischen Pavia das Leben – das Studentenleben. Die Universität wurde bereits im Jahr 1361 gegründet. Sie zählt zu den ältesten Fakultäten Europas. Rund 24000 Studenten sind hier eingeschrieben, was das Stadtleben jung und dynamisch prägt.
Alt und ehrwürdig indessen thront die zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernte gigantische Klosteranlage „Certosa di Pavia“. Die Bauzeit der Renaissancefassade alleine erforderte 150 Jahre (bis 1549). An diesem Monument der Kunst und Kultur findet diese Wintertour ihren krönenden Abschluss zurück aus der Natur.
Inversionswetterlage – kalte Gebirgsluft schiebt sich unter leichtere Warmluft in die Po-Ebene. Folge: Dunst am Abend und viele Nebeltage.
Endlos bis zum Horizont:
Nicht nur auf dem Meer wirkt der Erdball flach wie eine Scheibe. Auch schon wenige 30 Meter über dem Talrand des Fiume Ticino begrenzt nur die Erdkrümmung den weitläufigen Rundumblick..
Madonna delle Grazie: Die Marmor-Fassade dieser Kirche ist berühmt. Seine Reliefs und Statuen verkörpern den Gipfel in der Bildhauerkunst.
Übersichtskarte
Dauernebel: Vorweihnacht im italienischen Pavia
Pavia – im Herbst und Winter oft unter Nebel versteckt.
Die Wintertour beginnt bei Sonnenschein am Fuß der Alpen und endet im kalten Nebel von Pavia. Für die Städte in der Po-Ebene ist dies grauer Alltag. Kalte Luftmassen gleiten aus den Alpen in die gerade mal 77 Meter überm Meer liegende Studentenstadt hinab, darüber riegelt Warmluft wie ein Deckel die Kessellage ab. Folge: Nebel verhüllt die „Ponte Coperto“ (Foto oben), hinter ihr die malerische Altstadt und autofreien Straßen in tristes Grau. Doch hindert das die Bewohner nicht, ihre wunderschöne Stadt tagtäglich zu zelebrieren, gerade zur Weihnachtszeit.
Gigantische Baukunst: Kloster Certosa di Pavia
Ob filigrane Figuren kaum größer als eine Hand oder mannshohe Schöpfungen, der Detailreichtum der unendlich vielen Marmorfiguren an der Fassade der Kirche „Madonna delle Grazie“ beschäftigt das Auge theoretisch tagelang. Doch auch das Innere, der Prunk im gotischen Kirchenschiff und seiner Fresken lässt sich kaum erfassen.
Biosphärenreservat: Parco Naturale Valle Ticino
Tourstart: Sesto Calende, am südlichen Zipfel des Lago Maggiore..
Der Parco Naturale del Ticino schützt seit 2022 als anerkanntes UNESCO-Biosphärenreservat fast den ganzen Flusslauf über rund 100 Kilometer vom südlichen Ende des Lago Maggiore bei Sesto Calende bis Pavia. Ein Radweg führt durch die ursprünglich erhaltenen Flusslandschaften des Ticino.
Dieses UNESCO-Biosphärenreservat besteht aus zwei Teilen: Nördlich, im Piemont gelegen (6561 Hektar, 1978 gegründet) und südlich in der Lombardei (91410 Hektar, seit 1974). Somit steht nun fast das gesamte Tal des Fiume Ticino unter Schutz, seine komplexen Naturlandschaften, Feuchtgebiete, Landwirtschaftsflächen, Heiden, Wälder und Wasserläufe.
Biosphärenreservat Valle Ticino: 914 Quadratkilometer / Höhe: 56 bis 206 Meter.
Zum Vergleich: Biosphärengebiet Schwäbische Alb: 853 Quadratkilometer.
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Printausgabe: Sphäre 3/2024, Seite 30-33
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