Münsinger Hardt

Der Goldkessel der Reichenau

Auf einem schwäbischen Berg, die Reichenau geheißen, ruht unter den Ruinen eines alten Schlosses ein ungeheurer Schatz in einem goldenen Kessel. Nur alle fünfhundert Jahre einmal wird ein Mensch geboren, der ihn heben kann, wenn er mutig genug ist. Nun weidete einst ein Hirte seine Herde am Fuße der Reichenau, als plötzlich eine wunderliebliche, aber seltsam gekleidete Jungfrau vor ihm stand und zu ihm sagte: „Du lieber Trautgesell, du kommst zur rechten Stunde her. Wisse, du bist berufen, den reichen Schatz unter dir zu heben.“ Der Hirte erschrak zuerst, fasste dann aber Mut und hörte der Jungfrau weiter zu. „Heute in vierzehn Tagen, wenn der Vollmond am Himmel steht,“ sagte sie, „musst du wieder an diesen Platz kommen und zwei Priester mitbringen. Ihr werdet den Schatz in einem goldenen Kessel auf dem Gipfel des Berges funkeln sehen, schreitet darauf zu und lasst euch durch nichts beirren, dann was euch auch immer Schreckliches in den Weg treten wird, nichts kann euch etwas anhaben. Greift nur kecklich hinein in den Goldkessel und der Schatz ist euer. Wenn ihr euch aber schrecken lasset, so wehe euch und mir! Dann muss ich abermals fünfhundert Jahre verzaubert leben und kann keine Ruhe finden. Erbarmet euch mein!“ Voll Mitleid versprach der Hirte, ihr zu helfen.

Am folgenden Tag lief er zum nahen Priester, der ein rechtschaffener Mann war, und erzählte ihm alles, und in der nächsten Vollmondnacht stieg der Hirte mit zwei Priestern die Reichenau hinan. Plötzlich fing es im Berg an zu donnern und zu lärmen, dass es ein Graus war, eine Feuergarbe schoss aus dem Gipfel empor und blaue Flämmchen züngelten aus den Ruinen. Inmitten der Flammen aber stand jetzt ein großmächtiger Kessel aus reinem Golde, der noch schöner glänzte als das Feuer um ihn her und bis zum Rand mit Gold gefüllt war.

Als nun die drei Männer auf den Goldkessel zuschritten, erhob sich plötzlich rings um sie her ein furchtbares Geschrei, Raben und Eulen und Fledermäuse flogen ihnen um den Kopf und aus Bäumen und Gebüschen wurden Knochen und Steine auf sie geschleudert. Aber ihre Gebete bannten zuletzt den Teufelsspuk und sie drangen tapfer vor. Da verfinsterte sich der Himmel, der eben noch mondhell gewesen war, der Berg erbebte, und ein schreckliches Unwetter tobte. Jetzt stürzten grausige Tiere, Schlangen und Drachen mit drohend aufgesperrten Rachen aus Busch und Felsenspalt. Aber die Dreie achteten den wüsten Graus nicht und schritten herzhaft auf den Goldkessel zu. Eben hatten sie ihn erreicht, als sich, von unsichtbarer Hand gespalten, der Boden öffnete. Einer feurigen Tiefe entstieg scheußliches Gewürme, Raubtiere kamen herauf und ein abscheulicher Gestank erfüllte die Luft, also, dass die Männer kaum noch atmen konnten. Da wandten sich die Priester zur Flucht und auch den Hirten erfasste das Entsetzen und schreiend lief er mit ihnen fort. Hinter ihnen drein aber lachte die Hölle und als sie sich nach einer Weile umsahen, verschwand eben der Goldkessel inmitten blauer Flammen in der Tiefe.

Seit jener Zeit haben die Leute noch oft versucht, den Goldkessel der Reichenau zu heben, aber keinem ist es bis jetzt gelungen, auch den Schatzgräbern nicht, die im Jahre 1818 viele Monate hindurch nächtlicherweise an diesem Ort ihr Glück versucht haben.

 

Aus: Was Höhen und Tiefen raunen. Schwäbische Sagen gesammelt von C. A. Schnerring (um 1925)

 Zusammengestellt von: Steffen Dirschka, Stadtarchivar Münsingen

 

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