Münsingen-Stadt

Die „schwarze Marie“ von Münsingen

Ein schöner Spätsommertag ging zur Rüste. Die letzten Strahlen vergoldeten die Türme von Münsingen und die umliegenden kahlen Berge. Der Wächter des Oberen Tors, der alte Schmid-Jakob, hatte eben die Zugbrücke über den Stadtgraben aufgezogen, die beiden schweren Tore abgeschlossen und dem Bürgermeister Ludwig Stump die Schlüssel auf das Rathaus gebracht. Wegen der unruhigen Zeiten verlangt der Herr Bürgermeister, dass die Stadttore jeden Tag vor Eintritt der Dämmerung geschlossen werden. Sorgenvoll blickt unser Schmid-Jakob, der schon seit 40 Jahren sein Amt versieht, von seinem Turmstübchen hinaus auf die Alb; eine dunkle Rauchwolke, etwa in der Richtung von Magolsheim, gibt Kunde von einem dort ausgebrochenen Brand. Es ist dies nichts Seltenes. Fast in jeder Nacht waren da und dort Feuersbrünste wahrzunehmen. Ziehen doch Banden, meist aus entlassenen und entlaufenen Soldaten bestehend, plündernd und brandschatzend von Ort zu Ort. Wehe dem Bauern, der sich ihnen widersetzt. Das Abbrennen seines Gehöftes ist noch das wenigste, das er und die Seinen erdulden müssen. Es gilt, scharf aufzupassen, dass dieses verrohte Gesindel der Stadt nicht zu nahe kommt.

Dieser unglückliche Krieg! Handel und Wandel stocken. Keiner getraut sich mehr, über Feld zu gehen. Kaum konnten die Äcker bestellt werden. Entfernter liegende Stücke mussten brach liegen bleiben. Infolge der Plünderung der Stadt durch die Kaiserlichen unter Graf Egon von Fürstenberg im Jahre 1631 sind die Bürger verarmt. Seit einiger Zeit schwirren Gerüchte durch die Stadt, die beiden Heere sammeln sich im Ries und es stehe eine große Schlacht bevor.

Zu diesen Sorgen kam schwerer häuslicher Kummer. Sein einziger Sohn Georg, der einmal sein Nachfolger als Torwart hätte werden sollen, war vor drei Jahren mit den abziehenden Soldaten verschwunden. Vor einigen Wochen kehrte er mit gelähmtem Arm zurück, verdorben an Leib und Seele. In der Trunkenheit verriet er kürzlich, dass er die ganze Zeit mit dem Heerestross herumgezogen und dass ihm bei der Plünderung eines Gehöfts von dem Bauern der Arm abgeschlagen worden sei. Der Bauer und sein Weib seien von seinen Genossen sofort erstochen und das Gehöft angezündet worden.

Doch, was war das? Rief nicht Jemand? Sogar seinen Namen glaubt er zu hören. In der Dämmerung sieht er über dem Stadtgraben ein Frauenzimmer mit einem Pack auf dem Arm, das winkt und ruft: „Machet schnell auf und lasset mich in die Stadt!“ „Da hätte ich viel zu tun, wenn ich wegen jedem vagabundierenden Weibsbild aufmachen wollte. Gehet nach Auingen und sehet, dass Ihr dort ein Unterkommen findet.“ „Ich bitte Euch um Gottes willen, Schmid-Jakob, machet auf, ich habe Wichtiges zu vermelden.“ „Es darf jetzt niemand mehr in die Stadt, kommet morgen wieder.“ „Dann geht zum Bürgermeister und sagt ihm, ich habe ihm sehr Wichtiges anzuzeigen, es geht um das Wohl der Stadt. Es darf keine Minute versäumt werden.“ „Wer seid Ihr denn? Der Sprache nach seid Ihr nicht weit her.“ „Ich bin die Enkeltochter des Hafners Ruoß in der Salzgasse.“ „Dann bist Du die schwarze Marie, die vor drei Jahren mit den kaiserlichen Reitern durchgegangen ist.“ „Ja, die bin ich. Eilet und lasset mich mit meinem Kinde bald herein. Der Stadt droht große Gefahr.“

Schweren Herzens verfügt sich unser Schmid-Jakob zum gestrengen Herrn Bürgermeister. Der hohe Herr begab sich sofort ins Torstübchen, um von dem Frauenzimmer selbst näheres zu hören. Es rief ihm über den Graben zu, bei Nördlingen sei zwischen den Schweden und den Kaiserlichen eine große Schlacht geschlagen worden, die für die Schweden unglücklich ausgefallen sei. Viele tausend Schweden, aber auch einige tausend Württemberger bedecken das Schlachtfeld. Das ganze kaiserliche Heer sei im Anmarsch gegen Württemberg, auf das es besonders abgesehen sein soll. Sie hoffen, da noch etwas holen zu können. In kurzer Zeit werden Dragoner in der Münsinger Gegend eintreffen.

Schreckensbleich befahl der Bürgermeister, die Tore zu öffnen und das Weib hereinzulassen. Der Sohn des Torwarts hörte von seinem Gemach aus die ganze Unterhaltung mit an. Er frohlockte, er ahnte, dass jetzt für ihn gute Tage kommen werden.

Das Weib war wirklich die Enkeltochter des Hafners Ruoß. Wegen ihrer in Münsingen ungewöhnlichen tiefschwarzen Haare hatte sie den Beinamen „die schwarze Marie“ erhalten. Ihre Mutter war einst im Dienst in Ulm, sie soll sich dort mit einem welschen Soldaten eingelassen haben. Sie starb bald nach der Geburt ihres Kindes und so musste der Großvater das Kind aufnehmen.

Die schwarze Marie erzählt, dass sie 1631 mit den kaiserlichen Reitern fortgegangen sei; in einem unglücklichen Gefecht sei der ganze Tross in die Hände der Schweden gefallen. Sie sei nun zu einem schwedischen Kornet gekommen, der sie aber gut behandelt habe und der der Vater ihres Kindes, eines einjährigen, blondlockigen Knaben sei. Vor sechs Tagen sei bei Nördlichen eine fürchterliche Schlacht gewesen, die zu einer schweren Niederlage der evangelischen Seite geführt habe. Das ganze Lager sei in die Hände der Kaiserlichen gefallen. Ein Wachtmeister, dem sie zur Beute geworden, habe sie wegen ihres Kindes, von dem sie sich nicht trennen wollte, in rohester Weise misshandelt. Sie sei deshalb dem Tross entlaufen. Das Heer komme nur langsam vorwärts, weil alle Ortschaften geplündert und angezündet werden. Es stehe jetzt in der Gegend von Heidenheim. Da an diesen Aussagen kaum gezweifelt werden konnte, alarmierte der Bürgermeister in der Nacht die Bürgerschaft. Er schickte auch Boten an die benachbarten Städte.

Angsterfüllt kamen die Bürger auf dem Marktplatz zusammen. Der Bürgermeister gab ihnen Kunde von der drohenden schweren Gefahr. Bei der geringen Zahl der Bürger, ihrer schlechten Bewaffnung und dem verwahrlosten Zustand der Stadtmauer war an Widerstand nicht zu denken. Jeder vergrub noch in der Nacht, was er Wertvolles hatte; der Bürgermeister ließ die Gelder und Urkunden der Stadt in einem sicheren Gewölbe unter der Stadtkirche verwahren. Wer Freunde hatte in den besser geschützten benachbarten Städte Urach, Reutlingen und Ulm, flüchtete dorthin oder schickte wenigstens seine Frau und Kinder. Viele suchten Zuflucht in den Wäldern und Höhlen der Alb. Die schwarze Marie fand bei ihrem Großvater keine gute Aufnahme. Erst auf Zureden des Bürgermeisters, der ihm vorstellte, wieviel die Stadt seiner Enkeltochter zu verdanken habe, entschloss er sich, sie zu behalten. Marie aber wollte nicht bleiben, sie fürchtete die Rache der Dragoner. Sie ging nach Urach, wo sie bei einem Vetter Unterkunft fand. Sie soll sich später dort verheiratet haben. Ihr Kind behielt der Großvater bei sich.

Bange Tage durchlebte die Stadt. Immer zahlreicher wurden die Brandherde, die vom Hungerberg aus beobachtet werden konnten. Schon kamen Flüchtlinge von der Laichinger Gegend, die Grässliches berichteten. Nach vier Tagen stand eine Abteilung Reiter vor dem Oberen Tor, sie verlangten sofortigen Einlass, der ihnen auch gewährt wurde, da eine Weigerung nutzlos gewesen wäre und die Lage der Stadt nur verschlimmert hätte. Auf dem Marktplatz bat der Bürgermeister mit einigen Ratsmitgliedern um Schonung der Stadt. Der Führer, ein junger Leutnant, verlangte gutes Quartier und Verpflegung und sagte, dass in einigen Tagen das Regiment selbst ankommen und in Münsingen bleiben werde. Er versprach, die Stadt gut zu behandeln, wenn die Bürger alle Forderungen gutwillig erfüllen werden.

Die Bürger atmeten auf, leider zu früh. Spät abends rückten schon die kaiserlichen Dragoner an. Ihnen folgte ein endloser Wagenzug, mit dem Tross, vielen Trossknechten, Weibern und Kindern und schwer beladenen Wagen. Der Führer der Reiter, der Oberst Johann Wolf, nahm Quartier im Schloss, die Soldaten und die Pferde wurden bei den Bürgern untergebracht. Für den Tross musste man auf den Schlosswiesen eine Wagenburg mit Zeltlager einrichten. Da die Forderungen nach Brot, Fleisch, Wein, Schnaps, Bettzeug vom dem kleinen Städtchen unmöglich erfüllt werden konnten, kam es schon in derselben Nacht zu schweren Gewalttätigkeiten. Überall hörte man Wehe- und Hilferufe und das wilde Geschrei der vertierten Soldaten. Unter grässlichen Quälereien wurde den Bürgern das Wenige, das sie noch hatten, genommen und ihre Verstecke geleert. Wer sich widersetzte, wurde niedergeschlagen. Täglich gingen Abteilungen in die umliegenden Ortschaften, von wo sie mitbrachten, was sie fanden: Vieh, Frucht, Hausrat, Leinwand usw. Schrecklich leuchteten jede Nacht die Feuer. Ein Gehöft um das andere wurde niedergebrannt. Die Strohdächer, die damals noch allgemein waren, trugen sehr zur Verbreitung der Brände bei. Es war wohl die schrecklichste Zeit, die die Münsinger Alb je durchgemacht hat. Die Stadt Münsingen kam verhältnismäßig noch glimpflich weg, weil die Soldaten in den Häusern einquartiert waren und die Offiziere dafür sorgten, dass in der Stadt selbst nichts angezündet wurde.

Die fortwährenden Durchmärsche von Truppen waren stets eine weitere Ursache von Erpressungen und Gewalttätigkeiten. Am schlimmsten waren die Kroaten, die nachher ihr Lager in Marbach aufschlugen und von dort aus ihre Plünderungszüge machten. Heute noch heißt eine Wiese bei der Einmündung des Dolderbachs in die Lauter im Volksmund „die Krawatt“. In den älteren Güterbüchern aber heißt es „Die Kroatenwiesen“. Eine traurige Rolle spielte der Sohn des Torwarts, des Schmid-Jakob. Er fand Freunde im Tross und verbrachte dort bei Trunk und Würfelspiel seine ganze Zeit. Den Plünderern machte er Angaben, wo im Städtchen noch etwas zu holen sei. Gewissenlose Händler, die den Tross begleiteten kauften den Soldaten die geplünderten Gegenstände ab; sie sorgten dafür, dass den Reitern das Geld nie ausging. Immer mehr zeigte es sich, dass der Tross noch ein größeres Übel war, als die Soldaten selbst.

Endlich schlug auch für Münsingen die Stunde der Erlösung. Als nirgends mehr aufzutreiben war, entschloss sich die Horde, weiterzuziehen. Am 17. Dezember 1638 schrieben Bürgermeister, Gericht und Rat „im Namen des in Grund ruinierten Stättleins und Ämtleins Münsingen“ an den Herzog, dass sie durch die Dragoner des Obersten Wolf, die heute abzogen, ganz verderbt seien.

Wie sah es aber jetzt in der Stadt und in den umliegenden Orten aus! Von den 200 Bürgern der Stadt waren nur noch 40 vorhanden. Keine Lebensmittel, kein Vieh gabs mehr, kein Acker war bebaut, die Häuser verwüstet, kein Schrank, der nicht erbrochen war. Langsam kehrten die Bürger aus ihren Verstecken zurück. Es war ihnen alles genommen, aber einen bösen Gast ließen die Soldaten zurück, die Pest. Wer von den Dragonern verschont geblieben war, erlag dieser schrecklichen Seuche. Eines der ersten Opfer war der Sohn des Torwarts; er fand kein Mitleid. Bald darauf folgte ihm auch der brave Schmid-Jakob. Auch die einsetzende Hungersnot forderte viele Opfer.

Der Bezirk war ganz verwüstet; viele Ortschaften, z.B. Dapfen, Hundersingen, Dottingen, Steingebronn, Feldstetten, waren vollständig ausgestorben und abgebrannt, in andern, wie in Gomadingen waren nur einzelne Bürger vorhanden. Noch nach 60 Jahren lagen einzelne Hofstätten wüst. Ganze Rudel von Wölfen machten zudem das Land unsicher. Noch Jahrzehnte lang hatten viele Gemeinden keinen Pfarrer und Lehrer, keine Kirche und kein Schulhaus. Die meisten Kirchenbücher gingen in dem Krieg verloren.

Die Leiden der Stadt in diesem schrecklichen Kriege waren aber noch nicht erschöpft. Kaum hatte sich die Stadt wieder notdürftig erholt, plünderten 1643 die Bayern und im September 1646 die Schweden. Das Jahr 1848 brachte endlich den ersehnten Frieden. Nur langsam konnte die Stadt wieder in Ordnung kommen. Zögernd kehrten die zerstreuten Bürger zurück, die meisten fehlten. Viel Arbeit und Fleiß gehörte dazu, wieder eine Grundlage für gedeihliche Verhältnisse zu schaffen. Die im Kriege der Verwahrlosung anheimgefallenen Gräben, Mauern und Tore der stadt konnten erst 1654 wieder einigermaßen in Stand gesetzt werden. Noch am Ende des Jahrhunderts gab es 900 Jauchert wüstliegendes Land bei der Stadt.

 

Erzählung des 20. Jahrhunderts auf Grundlage historischer Quellen zu den Geschehnissen des Dreißigjährigen Krieges

 

Die Hasenrupfer

Eine Jagdgesellschaft steuerte mit ihrem erlegten Hasen in Münsingen eine Wirtschaft an. Die Jäger gaben der Wirtin den Hasen, sie solle ihn auf der Stelle braten. Inzwischen ließen sie sich ihr Viertele schmecken. Und noch ein Viertele. Und noch eins. Und immer wieder schrie einer: „Wie isch? Isch dr‘ Has bald fertig?“ Aber es rührte sich nix. Den Jägern ging allmählich ihr Latein aus und auch die Geduld. Schließlich ging einer in die Küche. Er machte die Türe auf und wollte grad nach dem Hasen fragen, da flog ihm der auch schon ins Gesicht und die Wirtin, mit hochrotem Kopf und Schweiß auf der Stirn, fauchte ihn an: „Do, rupfet uiern Hase selber!“ Seither sind die Münsinger die „Haserupfer“.

 

Zusammengestellt von: Steffen Dirschka, Stadtarchivar Münsingen

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