Owen

Verena Beutlin / Die Zwerge von Owen / Der langnasige Riese von den Teckwäldern

 

Verena Beutlin

Wenn man von der Teck zum, Gelben Felsen wandert, entdeckt man nahe dem Absturz im felsigen Boden ein Loch, eine Öffnung, die, halb eingestürzt, steil in d~Tiefe führt. Vor langer Zeit soll sich hie:‘ eine traurige Geschichte zugetragen haben.
Zuweilen sah man damals eine dünne Rauchsäule beim Gelben Felsen hochsteigen. Manche entdeckten auch einen Fetzen roten Tuchs, der im Winde flatterte. Man schenkte dem keine Beachtung, war doch leicht erklärbar, dass sich ein Stück Stoff, vom Sturm hingeweht, im Gesträuch verfangen hatte und dass an kalten Tagen die wärmere und feuchte Luft aus den Erdspalten stieg und zu Nebel wurde.
In jener Zeit kamen des öfteren bettelnde Kinder durch die Orte im Lenninger Tal, zwei in Lumpen gekleidete Buben, denen da ein Stück Brot, dort ein Ei oder ein Teller Suppe gereicht wurde. Man fragte sie nach Herkunft und Eltern, erhielt aber immer nur ausweichende Antwort.
Auch ein fremder Mann wanderte oft durch Owen und stieg den Berg hinauf. Doch da er Tragkorb und Haue trug, dachte jeder, dass er einer Arbeit auf dem Teckberg nachzugehen habe.
Keiner ahnte, dass der Mann und die beiden Kinder zusammengehörten und auf dem Weg waren zum Gelben Felsen, wo sie erwartet wurden. Ein böses Schicksal hatte ihnen die Heimat genommen, und nun suchten sie Zuflucht in jenem Erdloch beim Gelben Felsen. Dort hatte die Mutter der Buben, Verena Beutlin, die Höhle so hergerichtet, dass man darin wohnen konnte: An der Felsenwand standen, aus rohen Brettern gezimmert, Tisch und Bank; „In der trockenen Ecke befand sich die aus Stroh und Laub aufgeschüttete Lagerstatt, und in der Mitte des Raumes war aus Stein ein Herd errichtet. An Holz zum Heizen und Kochen fehlte es nicht, doch oft an Speisen, die der Vater verdient und die Kinder erbettelt hatten. Verena selbst fürchtete sich vor den Menschen und hütete sorgsam das Geheimnis ihres Verstecks. Aber wenn die Vorräte verbraucht waren, sollte der Vater Nachricht erhalten, Der rote Fetzen Tuch, an Ästen über den Felsen festgebunden, sagte ihm, dass Not in der Höhle eingekehrt sei. Verena konnte auch nicht verhindern, dass der Rauch des Herdfeuers aus dem Felsenspalt hochstieg und von den Leuten im Tal wahrgenommen wurde.
Alles ging lange Zeit gut, bis eines Wintertags bitterer Hunger in der Höhle einkehrte. Längst waren die letzten Vorräte aufgebraucht, aber der Vater blieb aus. Schließlich schickte Verena ihre beiden Söhne hinunter nach Owen, um etwas Brot zu erbetteln. Dort hatte man Mitleid mit den halbverhungerten Kindern, die trotz Frost und Eis unterwegs waren, gab ihnen zu essen, fragte aber eindringlicher nach dem Woher und Wohin. Da brachen die Buben ihr Schweigen und erzählten alles.
Man hätte meinen sollen, dass nun alle Not ein Ende fand. Aber Verena hatte die Menschen jener Zeit richtig eingeschätzt. Als sie hörten, dass die Frau schon längere Zeit abgeschieden in der Berghöhle hauste, dass sie sich versteckt hielt, nicht des Sonntags zur Kirche kam und dass ihre Kinder noch nicht einmal die Taufe empfangen hatten, glaubten alle, Verena sei eine Hexe, die allen Unglück bringen könnte.
Einige Männer zogen hinauf zur Höhle, überfielen die arme Frau, banden sie und schleppten sie hinunter in den Kerker der Stadt. So sehr Verena ihre Unschuld auch beteuerte, sie wurde, wie viele Frauen in jener Zeit, als Hexe zum Feuertod verurteilt und verbrannt.
Ihre beiden Söhne aber taufte man. Was aus ihnen und ihrem Vater geworden ist, weiß niemand zu berichten

 

 

Die Zwerge von Owen

Einst wohnten im Wald zwischen Owen und Beuren viele Zwerge. Es waren lustige Gesellen, immer zu Scherz und Schabernack bereit, und wenn man unterwegs war, konnte man erwarten, einem Zwerglein zu begegnen, das sich kichernd im Gebüsch versteckte, das mit Tannenzapfen nach einem warf oder das lustig seine Zipfelmütze schwenkte. Sie hatten allerhand Streiche im Kopf, die kleinen Burschen, aber sie halfen auch gerne, wenn man in Not war. In ihrem Wald kannten sie sich aus, wussten Bescheid über die Heilkraft der Pflanzen und verstanden es, Salben und Tränklein zu bereiten, die alle Gebrechen und Krankheiten verschwinden ließen. Wenn ein Arzt nicht mehr wusste, was er tun sollte, sagte er: »Geh zu den Zwergen im Owener Wald. « Deshalb kamen die Menschen von weither, um bei den Kleinen Hilfe zu suchen.
Am geschicktesten und klügsten aber war der Zwergenkönig. Er wohnte in einem gläsernen Schloss mitten im Wald. Wer dorthin fand und um Hilfe bat, konnte sicher sein, von jedem Leiden erlöst zu werden.
Aber von einem Tag auf den anderen war das kleine Volk verschwunden; niemand hatte sie wegziehen sehen, von niemandem hatten sie sich verabschiedet. Hatte man sie beleidigt oder gekränkt? Einer sagte, er habe sie im fernen Morgenland getroffen, aber wer weiß, ob es wahr ist.
Nur ein alter Zwerg war noch lange da. »Das lederne Männlein« hießen ihn die Leute, weil sein zerfurchtes Gesicht aussah wie altes Leder. Es war ein komischer Geselle, der gerne die Holzsammlerinnen erschreckte und sich diebisch über jeden Streich freute.
Wenn Kinder in den Wald kamen, riefen sie oft: „juhu!“ Und wenn sie dann aus weiter Ferne das Echo »hu« hörten, schauten sie sich an und sagten: »Habt ihr’s gehört? Das lederne Männlein hat Antwort gegeben.« Und dann liefen sie schnell nach Hause.

 

Der langnasige Riese von den Teckwäldern

In den Wäldern unter der Burg Teck hauste vor langer Zeit ein Riese. Er war von ungeheurer Größe und trug mitten im breiten Gesicht eine lange Nase. Alles, was ihm in die Finger kam, wurde gepackt, beschnüffelt, untersucht. Wenn es ihm im Wald zu langweilig war, stieg er hinunter ins Städtchen Owen. Auch dort brachte ihn seine Neugier dazu, überall herumzustöbern und zu schnüffeln. Die Leute ärgerten sich darüber und nannten ihn heimlich Schnüffelnase, aber niemand wagte es, ihn fortzuschicken, denn er war stärker als alle.
Oft stattete er auch dem Schlosser Hansjörg einen Besuch ab. Da ihm aber die Werkstatt zu niedrig und eng war, blieb er auf der Gasse und streckte seinen Kopf durch das breite Fenster. Überall langte er hin mit seinen großen Händen, alles musste er betasten und beschnuppern, und wenn er dann endlich weiterging, hatte der Meister zuerst die Werkstatt wieder aufzuräumen.
Schließlich wurde diesem die Sache zu dumm, und der sann nach, wie er den ungebetenen Gast für alle Zeiten loswerden könnte. Er schaute sich in der Werkstatt um, und bald kam ihm ein guter Gedanke.
Als Schnüffelnase wieder einmal im Städtchen erschien, stellte Hansjörg seinen großen Schraubstock unter das Fenster und drehte ihn weit auf. Er musste nicht lange warten; schon erschien der Riesenkopf im Fenster. Kaum hatte der Bursche den Schraubstock entdeckt, da steckte er neugierig seine Nase zwischen die beiden Backen. Darauf hatte der Schlosser gewartet! Schnell drehte er den Schraubstock zu und klemmte sie ein.
Der Riese schrie auf vor Schmerz und wollte seinen Kopf aus dem Fenster ziehen; doch weil der Schraubstock so groß und sperrig war, brachte er ihn nicht durch die Öffnung. Er zog und zerrte, rüttelte und brüllte, aber alles half nichts, und der Schlosser ließ ihn zappeln. Schließlich verlegte sich der Riese aufs Bitten. Darauf hatte Hansjörg gewartet. »Wenn du versprichst, nie mehr in meine Werkstatt zu kommen, gebe ich dich frei«, sagte er, und was blieb Schnüffelnase anderes übrig? Er musste auf den Handel eingehen.
Der Schlosser drehte den Schraubstock wieder auf, und der Riese zog schnell seinen Kopf zurück. jammernd und schimpfend betastete er seine blutige Nase, aber schließlich trollte er sich zur Stadt hinaus und blieb ihr für immer fern.
Der Schlosser hatte die Geschichte fast schon vergessen, als er einige Zeit später zur Teckburg hinaufstieg, um dort ein Türschloss wieder in Ordnung zu bringen. Plötzlich stand der Riese vor ihm. In der Hand trug er einen dicken Prügel. Hansjörg durchfuhr der Schreck. Ein Entkommen war unmöglich, ein Zweikampf aussichtslos! In seiner Angst kam ihm ein rettender Gedanke. Schnell stellte er sich auf den Kopf und streckte die Beine in die Luft, dass sie aussahen wie eine riesige Zange.
Und der Riese, der etwas kurzsichtig und einfältig war, dachte nicht darüber nach, ob sich ein Mensch in eine Zange verwandeln könne. Die Erinnerung an seine schmerzende Nase überfiel ihn mit solcher Macht, dass er entsetzt vor der anscheinend drohenden Gefahr zurückwich und im Dickicht verschwand.
Hansjörg konnte seinen Weg ungeschoren fortsetzen. Schnüffelnase aber ward bei uns nie mehr gesehen.

 

Zur Verfügung gestellt vom Albengel am Schopflocher Moor, besser als Otto-Hoffmeisterhaus bekannt

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