Sibylle von der Teck
Sibylle von der Teck
Vor uralten Zeiten, so wird erzählt, wohnte in einem prächtigen Felsenschloss auf dem Teckberg eine Frau, die über besondere Fähigkeiten verfügte: Sie hatte die Macht, Krankheiten und Gebrechen zu heilen, und besaß die Gabe, Ereignisse vorhersagen zu können, die anderen Menschen die dunkle Zukunft noch verhüllte.
Sibylle von der Teck hieß die Frau, und da sie ein gütiges Herz hatte, kamen viele zu ihr, um Rat, Trost und Hilfe zu holen. Sie besaß viele Reichtümer und Schätze, und wenn sie Menschen in Not und Armut Wusste, so zögerte sie nicht, herzuschenken, was sie entbehren konnte.
Ihre Liebe und Güte schienen unerschöpflich, und die Leute, denen sie beigestanden war, sprachen oft von ihr, Gewiss, sie hatten die Hilfe erhalten, die sie brauchten, aber mit Betroffenheit und leisem Grauen erinnerten sie sich der Augenblicke, in denen Sibylle still und verschlossen ihren Blick auf sie richtete, so, als ob sie durch sie hindurch in eine weite, unbekannte Ferne blickte. Dann wussten sie, dass sie versuchte, zu erkennen, was die Zukunft den Augen der anderen noch verbarg.
Auch in ihrem Aussehen unterschied sie sich von den Bauersfrauen, die sie besuchten. Sie war von hoher, stolzer Gestalt und trug ein einfaches weißes Gewand, das bis zur Erde reichte. Das Besondere an ihr aber waren die Augen, die traurig sein konnten, weil sie oft Kummer und Sorgen der Zukunft erkannten, die aber auch gütig und heiter blicken konnten, wenn Sibylle den verwirrt und unbeholfen gestammelten Dank der Beschenkten entgegennahm.
Die Menschen, die im Land um die Teck wohnten, waren zufrieden und glücklich, bis sich eines Tages zeigte, dass die drei Söhne der weisen Frau nur Böses im Sinne hatten. Sie wohnten zuerst in ihrem Schloss auf dem Wielandstein, bekamen dann aber Streit und schieden im Unfrieden. Der Älteste baute sich auf dem Teckberg eine Burg, der zweite blieb auf dem Wielandstein, und der dritte errichtete eine Burg auf dem Diepoldsfelsen. Eines hatten aber alle drei gemeinsam: Es gefiel ihnen, andere zu berauben, zu ängstigen, zu quälen. Ängstlich verschlossen die Bauern die Türen, denn sie waren nie sicher vor einem Überfall. Oft mussten sie
fronen und hatten kaum Zeit, die eigenen Felder zu bestellen. Und trug der Acker reiche Früchte, so wurde ihnen der Lohn ihrer Arbeit weggenommen. Schlimmer noch aber erging es den Kaufleuten, die mit ihren Handelswagen durchs Lenninger Tal zogen. Plötzlich brachen aus Verstecken Kriegsleute hervor, rissen die Knechte von den Wagen, erschlugen und erstachen, was sich wehrte, und führten die Beute in ihre Burg. Die Kaufherren wurden in dunkle Verliese geworfen, wo sie oft lange ausharren mussten, bis ihre Angehörigen Lösegeld zahlten. Und waren diese dazu nicht in der Lage, so mussten die Gefangenen ihr ganzes Leben lang im Kerker schmachten.
Am ärgsten trieb es der jüngste, der auf dem Diepoldsfelsen hauste. Er war noch habgieriger und grausamer als seine beiden Brüder, und das Volk fürchtete ihn am meisten. Man nannte ihn und seine Burg den Rauber. Er schreckte auch nicht davor zurück, seine eigene Mutter zu bestehlen.
Sibylle schämte sich ihrer missratenen Söhne. Sosehr sie sich bemühte, das von ihnen begangene Unrecht gutzumachen, so sehr erfüllten sie Kummer und Verzweiflung. Endlich fasste sie den Entschluss, ihre Heimat zu verlassen.
Eines Abends, so wird erzählt, fuhr sie mit einem feurigen Wagen, der von riesigen wilden Katzen gezogen wurde, zum Felsentor hinaus. Durch die Luft ging die Fahrt hinunter ins Tal. Ihre roten Haare flatterten im Fahrtwind und sprühten Funken. Quer über die Talaue lenkte sie den Wagen hinüber nach Beuren, und dort auf einem Hügel wurde sie zum letzten Mal gesehen. Seitdem heißt der Ort „Sibyllenkappel“.
Selbst auf ihrer Flucht tat sie Gutes: Heute noch ist ihre Wagenspur zu sehen, denn dort trägt das Korn mehr Frucht, und sogar das Laub der Bäume und Weinreben, über die sie fuhr, ist das schönste der ganzen Gegend.
Wie ihre Söhne endeten, weiß niemand. Sicher aber haben die Unterdrückten sich schließlich zusammengetan und sich gewehrt, und heute zeugen nur noch traurige Mauerreste von den einst so mächtigen Burgen.
Zur Verfügung gestellt vom Albengel am Schopflocher Moor, besser als Otto-Hoffmeisterhaus bekannt